Demos und Streiks Bauern, Lokführer, Arztpraxen: Wird in Deutschland immer mehr protestiert?
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09. Januar 2024, 06:38 Uhr
Die ganze Woche über wollen Landwirtinnen und Landwirte mit Aktionen gegen Subventionskürzungen protestieren. Ab Mittwoch will auch die Lokführergewerkschaft GDL erneut mehrere Tagen streiken. Ende Dezember blieben aus Protest gegen die aktuelle Gesundheitspolitik tausende Arztpraxen in Deutschland geschlossen. Gefühlt wird in Deutschland momentan deutlich mehr gestreikt und protestiert, als noch vor einigen Jahren. Mit einem Dauerprotest ist aber dennoch nicht zu rechnen.
- Auch wenn zuletzt in Deutschland gefühlt immer häufiger Menschen auf die Straße gehen, ist laut Protestforschern keine tatsächliche Steigerung der Anzahl von Protesten zu verzeichnen. Von einem Dauerprotest könne keine Rede sein.
- Eine Gefahr könnte eher darin bestehen, dass die Proteste immer radikaler werden und von Rechtsextremen unterwandert werden.
- Gewaltfreie Proteste können hingegen die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Fakt ist: Seit den 1960er-Jahren haben Proteste in Deutschland tatsächlich zugenommen.
Seitdem haben sie sich aber auf einem insgesamt hohen Niveau stabilisiert, sagt Protestforscher Sebastian Haunss vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt: "Aktuell habe ich nicht den Eindruck, dass es sich um Dauerprotest handelt. Wir sehen, dass ein paar große Proteste weitreichende Auswirkungen auf das öffentliche Leben haben, aber die Zahl der Proteste ist insgesamt durchaus hoch und zwar schon seit langer Zeit."
Allein in Berlin gebe es beispielsweise pro Jahr zwischen 3.000 und 3.500 Proteste.
Viele Demonstrationen, aber kein Dauerprotest
Dass die Proteste mehr geworden sind, ist also eher selektive Wahrnehmung, erklärt Daniel Saldivia Gonzatti. Er forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung unter anderem zu Protesten und politischer Radikalisierung. "Es kommt immer mal wieder, aber in den letzten Wochen bekommen wir mehr mit, dass wegen der Haushaltsdebatte und aufgrund von Kürzungen ökonomische Mobilisierung ein bisschen stärker in den Vordergrund kommt."
Menschen fühlten sich wirtschaftlich benachteiligt und tendierten deshalb dazu, auf die Straße zu gehen. "Entsprechend haben wir das Gefühl, in einem Zustand von Dauerprotest zu sein", sagt Saldivia Gonzatti.
Relativ hohes Radikalisierungspotenzial
Hinzu kommen dem Protestforscher zufolge die bevorstehenden Wahlen in der EU sowie in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Diese führten auch dazu, dass rechtsradikale Gruppen versuchen, einen eigentlich legitimen wirtschaftlichen Protest, wie ihn etwa die Bauern führen wollen, zu kapern.
Das könnte ziemlich schnell zu einer Radikalisierung von Protesten führen, erklärt Saldivia Gonzatti. "Wir sehen, dass ein sehr niedriges Politikvertrauen in der Bevölkerung herrscht. Wir sehen auch, dass eine relativ substanzielle Gewaltbereitschaft in Deutschland herrscht. Jeder zehnte Deutsche könnte sich zum Beispiel vorstellen, in gewissen Situationen politische Gewalt anzuwenden."
Außerdem seien viele Menschen aufgrund der verschiedenen Krisen in den letzten zwei bis drei Jahren frustriert. "Das alles gemischt, bereitet einen sehr sensiblen Nährboden für Radikalisierungspotenzial. Ich würde noch nicht sagen, dass wir schon da sind, aber klar – je nachdem, wer die Proteste dominiert und ob die Rechtsradikalen sie kapern können – könnte quasi eine Radikalisierung stattfinden.
Proteste können Demokratie stärken
Wichtig ist laut Saldivia Gonzatti daher, "dass Menschen, die sagen 'Ich bin ja nicht rechts' auch den zweiten Schritt machen und sagen 'Ich finde es schlecht, gemeinsam mit Rechten zu protestieren'. Diese Toleranz ist nämlich genau das Problem, denn dadurch findet ein Legitimierungsprozess statt."
Dies sei auf politischer Ebene bei allen demokratischen Parteien ebenfalls wichtig. Gleichzeitig sollten Politiker und Politikerinnen die demokratische Seite von Protesten hervorheben.
So sagt Sebastian Haunss vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt: "Menschen gehen auf die Straße und äußern ihre Unzufriedenheit. Sie tun das so, dass sie wahrgenommen werden, aber sie tun es, ohne gegen andere Personen Gewalt anzuwenden. Solange sie diesen Punkt nicht überschreiten, sind die Proteste eigentlich eher ein gutes Element – ein Element, in dem gesellschaftliche Konflikte in einer Weise zum Ausdruck kommen, die nicht Gewaltanwendung als Konfliktlösung in den Vordergrund stellt."
Heißt: Proteste können eine Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch stärken.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 09. Januar 2024 | 06:05 Uhr