Abwanderung von Ost nach West Experte: "Eine Abstimmung mit den Füßen über die wahrgenommene Zukunftsfähigkeit"
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20. August 2024, 11:31 Uhr
Es gab ein paar Jahre, in denen schien es, der Osten hätte sein Abwanderungsproblem überwunden: Von 2017 an zogen tatsächlich mehr Menschen von Westdeutschland nach Ostdeutschland als umgekehrt. Der Osten war offenbar wieder so attraktiv, dass ihn sich viele als zuhause vorstellen konnten. Doch der Trend währte nur kurz. Nach neuesten Zahlen kippte die Wanderungsbewegung vergangenes Jahr wieder um. 2023 zogen wieder mehr Menschen von Ost nach West. Woran liegt das – und ist es eine Trendwende?
- Obwohl vergangenes Jahr mehr Menschen von Ost- nach Westdeutschland gezogen sind als umgekehrt, würde Tim Leibert vom Leibniz-Institut für Länderkunde noch nicht von einer Trendwende sprechen.
- Dennoch ist er besorgt: Der Osten habe ein "Bevölkerungsproblem".
- Eine Lösung könnte sein: mehr Zuwanderung.
Die Zahlen klingen erst einmal nicht so dramatisch. Vergangenes Jahr sind reichlich 88.000 Menschen aus Ostdeutschland in den Westen gezogen. Das sind 3.000 mehr als die, die den umgekehrten Weg gegangen sind.
Leibniz-Institut für Länderkunde: Noch keine Trendwende
Da der Saldo nicht groß ist, würde Tim Leibert vom Leibniz-Institut für Länderkunde nach Jahren des leichten Zuzugs in den Osten auch noch nicht von einer Trendwende sprechen. Dennoch besorgt ihn die Entwicklung.
Unter den 88.000 Weggezogenen seien vor allem Junge und Ausländer gewesen. "Abwanderung ist eigentlich immer eine Abstimmung mit den Füßen über die wahrgenommene Zukunftsfähigkeit. Offensichtlich sind viele junge Menschen, viele ausländische Staatsangehörige, der Meinung, dass sie ihr Leben in den ostdeutschen Bundesländern nicht erfolgreich leben können."
Hat der Osten ein Bevölkerungsproblem?
Unterm Strich seien das keine guten Signale, sagt Leibert. Denn der Osten habe bereits ein Bevölkerungsproblem. Hunderttausende sind nach der Wiedervereinigung gegangen. Deswegen ist die Bevölkerung überdurchschnittlich alt. Salopp zugespitzt: Der Ossi stirbt aus.
Oliver Holtemöller vom Leibniz-Insitut für Wirtschaftsforschung Halle formuliert es so: "Die demographische Situation in Ostdeutschland kann man durchaus als dramatisch bezeichnen. In den ländlichen Regionen der ostdeutschen Flächenländer muss man davon ausgehen, dass es in Zukunft sehr schwierig wird, Beschäftigte zur Besetzung aller Arbeitsplätze zu finden." So könne die Anzahl der Erwerbstätigen in manchen Regionen in den nächsten zehn Jahren um zehn bis fünfzehn Prozent zurückgehen.
Abwanderung ist ein Teufelskreis
Wo die Bevölkerung schrumpft – das kann man seit Jahren beobachten – fehlen erst die Bäcker, dann die Ärzte und schließlich gehen deswegen noch mehr Leute. Ein Teufelskreis.
Dass es auf dem ostdeutschen Land bislang nicht gelungen ist, diesen zu durchbrechen, hat nach Einschätzung von Bevölkerungsforscher Leibert auch mit einer eingeübten Abwanderungskultur zu tun. "Dass man vielfach nicht so richtig darüber nachdenkt und nicht so richtig informiert ist, was man vor Ort für Chancen haben würde, weil eben immer noch so dieser Gedanke im Kopf ist: Um erfolgreich zu sein, muss ich in die großen Städte oder muss ich in den Westen gehen."
Mehr Zuwanderung und mehr Kinder
Dabei stimme das schon länger nicht mehr, sagt Leibert. Gute berufliche Chancen gäbe es heute auch im Osten. Allerdings sind die Löhne niedriger. Darauf weist Carsten Schneider hin, Ostbeauftragter der Bundesregierung. Trotzdem sagt auch er, in Sachen Lebensqualität stünde der Osten gut da.
Lösen könne man das Bevölkerungsproblem durch gesteuerte Zuwanderung. "Nur die Regionen, die offen sind für neue Leute, werden auch Zukunftsregionen sein. Das kann man politisch auch gar nicht bestellen, sondern das liegt an den Menschen, die in den Orten wohnen, ob sie andere Menschen willkommen heißen oder ob sie mit schlechter Laune durch die Stadt laufen und sie als Eindringlinge beschimpfen. Das gibt es auch. Und wenn das der Fall ist und das die Mehrheit ist, dann wird es zappenduster."
Auch die Forscher Leibert und Holtemöller betonen, der Osten benötige Zuwanderung. Mehr Kinder würden auch helfen, ergänzt Leibert. Allerdings sind die Geburtenraten nach Corona mal wieder eingebrochen. Holtemöller geht davon aus, dass man den Fachkräftemangel noch durch mehr Weiterbildung wenigstens teilweise ausgleichen könnte. Nach wie vor gebe es eine hohe Schulabbrecherquote im Osten. Hier verschenke man Potenzial.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 19. August 2024 | 06:00 Uhr