Ukraine-Krieg Nach der Flucht: Wie Mütter und Kinder mit den Folgen des Krieges kämpfen
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03. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Rund eine Million Flüchtlinge sind seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine nach Deutschland gekommen. Zwar sind sie hier in Sicherheit, doch die Folgen des Krieges fühlen sie auch hier immer wieder. Außerdem gehen die Kämpfe in der Heimat weiter und damit bleibt für viele die Ungewissheit: Was ist mit den geliebten Menschen, die noch dort sind?
Der Blick von Viktoria geht immer wieder zu ihrer Tochter. Nastia sitzt links neben ihr beim Gemeinschaftsabend für ukrainische Jugendliche in Zittau. Die Augen starren durch die Brillengläser stoisch geradeaus. Sohn Bogdan hängt mit gesenktem Kopf in einem Sessel, während andere Kinder singen. Die drei sind erst Ende Oktober nach Deutschland gekommen. Der Vater ist im Krieg gefallen – vor Monaten.
Bis zum Ausbruch des Krieges lebte Viktoria mit ihren Kindern in der Region Saporischschja im Südosten der Ukraine. Sie arbeitete als Pädagogin. Ihr Mann war nahe Kiew tätig, in Irpin. Der 24. Februar 2022 änderte dann alles. "Als der Krieg begann, haben wir natürlich daran gedacht zu fliehen. Es gab aber einfach keine Möglichkeit", berichtet Viktoria, während sie in ihren Händen ein Taschentuch knetet. Alle hätten damals große Angst gehabt, vor allem um die Kinder. "Ständig gab es Raketenbeschuss. Sie schlugen in der Stadtmitte ein. Häuser wurden zerstört, Menschen sind umgekommen."
Ständig gab es Raketenbeschuss. Sie schlugen in der Stadtmitte ein. Häuser wurden zerstört, Menschen sind umgekommen.
Als kurz nach Beginn des Krieges russische Truppen Richtung Kiew vorrückten, wurde auch Viktorias Mann zur Verteidigung eingezogen. "Am Mittwoch, dem 5. März, haben wir zuletzt mit ihm gesprochen. Danach haben wir nichts mehr gehört", sagt Viktoria und lässt die Schultern fallen. Später habe sie über Social-Media-Kanäle herausgefunden: "Er ist gefallen."
Die Wunden der Überlebenden
Als sich Anfang April die russischen Streitkräfte aus den Kiewer Vororten zurückzogen, wurde die ganze Grausamkeit des Krieges sichtbar. Massengräber werden entdeckt, unter den Toten sind viele Zivilisten, gefoltert und hingerichtet. Auch der Leichnam von Viktorias Mann wird in einem Keller gefunden.
"Meine Tochter weiß Bescheid. Sie trauert", sagt Viktoria über die Zwölfjährige. Ihrem zehnjährigen Sohn habe sie es auch gesagt. "Aber er kann das alles nicht begreifen. Er kann nicht begreifen, dass sein Vater nicht mehr am Leben ist." Die Kinder mussten bereits die volle Härte des Krieges erleben. Nun will die kleine Familie versuchen, etwas Normalität in ihren Alltag zu bringen und einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Doch die jüngste Vergangenheit lässt sie nicht los – und auch in Deutschland werden sie damit immer wieder konfrontiert.
"Es sind so viele Menschen verschollen oder haben Kriegsverletzungen", beschreibt Viktoria. Verlorene Beine und Arme. "Das mitanzusehen tut so weh. Es zerreißt einem das Herz. Man kann es nicht in Worte fassen. Es gibt keine Worte, um das alles zu beschreiben", sagt die Mutter und versucht die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln.
Ein Sprengsatz explodierte vor dem Entschärfen
Sascha hat ein solches Schicksal ereilt. Noch in der Nacht des 24. Februar, am ersten Kriegstag, ging es für den damals 21-Jährigen in den Einsatz. Aufgewachsen ist Sascha im Osten der Ukraine, in Mariupol. Die Stadt wurde fast vollständig zerstört. Saschas Familie hat alles verloren. Die einzigen übriggebliebenen Erinnerungsstücke: eine Handvoll Fotos aus Saschas Studienzeit in Lwiw. Auf einem der Bilder ist der junge Mann in blauer Ausgeh-Uniform, mit breiter Brust und stolzem Lächeln zu sehen.
"Ich habe mein Studium auf dem Fachgebiet "Bevölkerungsschutz" absolviert", erzählt der junge Mann mit einer weißen Binde vor beiden Augen. Seine Fachrichtung war Kampfmittelbeseitigung – Entschärfung von Sprengkörpern und Blindgängern. Er wurde im Krieg als Minen-Entschärfer eingesetzt. Anfang Juli kam es zum Unglück. Ein Sprengsatz explodierte unmittelbar vor dem Entschärfen.
"Ich wurde schwer verletzt. Meine Kameraden waren sofort da und sind geistesgegenwärtig geblieben. Ich bin ihnen sehr dankbar. Sie haben mir erste Hilfe geleistet", sagt Sascha. Der junge Mann wurde sofort medizinisch versorgt – und überlebte. Er verlor beide Hände und sein Augenlicht. Von Kiew aus suchten die Ärzte nach einer Klinik, die seine schweren Verletzungen behandeln kann. Schließlich erklärte sich die Uniklinik Halle bereit. Sascha wurde nach Deutschland ausgeflogen, begleitet von seiner Mutter. Inzwischen leben sie gemeinsam mit dem Vater in der Stadt in Sachsen-Anhalt.
Für die Mutter war es ein Schock, als sie vom Unglück ihres Sohnes erfuhr. "Ich habe nur gehört, Hände und Augen verloren. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man so weiterleben kann", sagt Julia. Doch dann habe sie verstanden, dass ihr Sohn nicht aufgibt. "Er kämpft weiter. Und mir bleibt dann auch nichts Anderes übrig. Ich darf die Hoffnung und die Kraft nicht verlieren", sagt sie, während ihr Kinn zu zittern beginnt. Sascha lernt nun mit seiner neuen Hand umzugehen. Er sitzt mit seiner Mutter auf der Couch. Sie steckt eine Tasse Tee in die Prothese und führt den Arm an seinen Mund. Vielleicht wird er auch einen Teil seiner Sehkraft zurückerlangen.
Wenn Kinder sich die Haare ausreißen
Nicht nur Sascha profitiert von dem Engagement der Ärzte und Therapeuten der Uniklinik in Halle. "Ich habe an den ersten Tag denken müssen. Als das alles begann", erzählt eine der zehn ukrainischen Frauen in dem kleinen Raum der Psychiatrischen Institutsambulanz. "Gleich am ersten Tag bin ich auch unter Beschuss geraten. Ich habe die Panzer gesehen, wie sie im Wald standen", sagt sie und schaut dabei Anna Rakytianska an. Die Psychologin bietet an der Uniklinik gemeinsam mit Semjon Sidanov einmal pro Woche eine Gruppentherapie für Ukrainer an. Etwas, das sonst fast nirgendwo zu finden ist.
"In letzter Zeit fange ich an, nachts unheimliche Träume zu haben", sagt eine zweite Teilnehmerin und senkt ihren Blick. "Wie etwas, was auf einmal hochkommt. Ich bin verängstigt, wenn ich aufwache." Darauf antwortet Anna Rakytianska: "Einige Gedanken können wir versuchen loszuwerden. Aber sie ganz loswerden, das wird nicht gelingen." Einige Erlebnisse und Ängste würden die Frauen weiterhin begleiten. Sie formt mit ihren Händen eine Kugel: "Sie können Gestalt von beängstigenden Bildern annehmen." Dann öffnet sie ihre Hände: "Aber ständig Angst zu haben, das geht nicht."
Anna Rakytianska ist im März selbst aus der Ukraine geflohen, zusammen mit ihrer Tochter. Ihr Mann ist in der Ukraine geblieben. An der Uniklinik hat die Psychologin eine neue Aufgabe gefunden. Derzeit wird ihre Arbeitsstelle noch aus Spendengeldern finanziert. In der Gruppe kommt ein Thema immer wieder hoch: "Meine Tochter kann die Sprache nicht, sie hat Angst, weint und will nicht zur Schule", sagt eine Frau. "Und als Eltern wissen wir nicht, wie wir mit diesen Ängsten und dem Stress umgehen sollen. Wir sind doch selber auf Hilfe angewiesen."
Die Kinder haben in Kellern Schutz gesucht. Haben Schreckliches gesehen. Das können ja selbst Erwachsene kaum verkraften, geschweige denn Kinder.
Wie können die eigenen Kinder den Krieg und die Flucht bewältigen? "Die Kinder haben in Kellern Schutz gesucht. Haben Schreckliches gesehen. Das können ja selbst Erwachsene kaum verkraften, geschweige denn Kinder", sagt Anna Rakytianska. Einige Kinder würden sich infolge dessen aggressiv verhalten oder könnten sich selbst verletzen. "Es kommen oft Fragen, was man tun kann, wenn das Kind an den Fingernägeln kaut sich die Haare ausreißt oder sich selbst Schnittwunden zufügt." Andere Kinder könnten nur schwer einschlafen oder sich nur schwer auf etwas konzentrieren. "Und die Mütter kämpfen dabei oft selbst mit dem Erlebten. Das alles sind klare Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung."
Nagende Ungewissheit: Was ist mit den Angehörigen?
Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Die Zukunft der Geflüchteten: ungewiss. Das Schicksal ihrer Angehörigen ebenfalls. "Mein Vater und mein Bruder sind beide noch in der Ukraine. Ich spreche jeden Tag mit ihnen. Am Telefon. Das ist schwierig", sagt Maxime. Der Jugendliche ist mit seiner Familie im Frühjahr nach Deutschland geflohen. Er geht jetzt mit 13 weiteren Jugendlichen aus der Ukraine an das Gymnasium in Taucha bei Leipzig.
"Alle hier haben ihre Väter in der Ukraine. Na ja, fast alle", sagt Bohdan, der auch in die Klasse geht. Sie hätten Brüder und Schwestern, um die sie sich kümmern müssten. "Meine Oma ist auch hier. Sie ist fast blind. Sie hat 90 Prozent ihrer Sehkraft verloren. Darum müssen wir uns kümmern, während mein Vater in der Ukraine kämpft."
Zweimal musste Bohdan bereits aus seiner Heimat fliehen. Aufgewachsen ist er im Donbass. Der Krieg begann dort schon 2014. Nun, acht Jahre später, wurde er erneut vertrieben. Sein Zuhause nahe Kiew wurde von Einschlägen zerstört. Die Familie floh Hals über Kopf. Zuerst nach Polen und von dort ins Ungewisse.
"Ich fühle mich irgendwie apathisch. Nicht wirklich depressiv. Ich folge einfach dem Fluss des Lebens", sagt der junge Mann mit den kurzen Haaren. "Ich habe aber irgendwie keinen Antrieb, ich mache hier nichts. Aber ich glaube das ist okay. Zumindest werden wir hier nicht beschossen." Beim letzten Satz versucht Bohdan zu lächeln. Doch er hat Angst, auch noch seinen Vater im Krieg zu verlieren.
Quelle: MDR exakt/ mpö
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 30. November 2022 | 20:15 Uhr