Interview der Woche Kriminalforscher: Warum sich Kriminalstatistiken und Sicherheitsgefühl unterscheiden können
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09. Dezember 2024, 08:13 Uhr
Nach den Attacken wie in Solingen und Mannheim in diesem Jahr haben viele Menschen das Gefühl, Deutschland sei unsicherer geworden. Dabei zeigen Statistiken etwas anderes. Sozialpsychologe und Direktor des Zentrums für Kriminologische Forschung Sachsen Frank Asbrock spricht im Interview der Woche mit MDR AKTUELL über die Diskrepanz zwischen wahrgenommener Sicherheit und Kriminalitätsstatistiken.
MDR AKTUELL: Herr Asbrock, wie weit klaffen Kriminalitätsstatistik und die von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommene Kriminalität auseinander?
Frank Asbrock: Die polizeiliche Kriminalstatistik und die Wahrnehmung, ob es sicherer oder unsicherer wird in Deutschland, geht nicht grundsätzlich einher. Wenn Sie in Umfragen Personen danach fragen, wie sich die Kriminalität entwickelt, ob es sicherer oder unsicherer in Deutschland geworden ist, da sagt der weitaus größte Teil in den letzten Jahren, es ist unsicherer geworden.
Das widerspricht der Beobachtung, dass die registrierte Kriminalität, also das, was sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik abbildet, was der Polizei gemeldet wird, seit Jahrzehnten rückläufig ist. Grundsätzlich gibt es immer wieder Schwankungen, es gibt immer wieder Anstiege, auch aktuell. Aber grundsätzlich hat die Gesamtkriminalität – und auch in vielen spezifischen Bereichen – in den letzten 20, 30 Jahren abgenommen.
Zur Person: Frank Asbrock Sozialpsychologe Frank Asbrock leitet seit 2019 das Zentrums für Kriminologische Forschung Sachsen an der Technischen Universität in Chemnitz. Davor war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Sozialpsychologie und Post-doc-Stipendiat im Graduiertenkolleg "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" an der Philipps-Universität Marburg. Er hat in Bielefeld und Jena Psychologie und Sozialpsychologie studiert.
Also man kann sagen, dass Deutschland entgegen dem Gefühl vieler sicherer geworden ist?
Tatsächlich ist Deutschland sicherer geworden, was diese registrierte Kriminalität angeht. Und das ist so ein bisschen das Problem von der polizeilichen Kriminalstatistik, weil sie nur einen Teil der Kriminalität angibt. Sie zeigt uns nur das, was der Polizei gemeldet, was zur Anzeige gebracht wurde, was ermittelt wird. Aber es gibt ja noch die Kriminalität darüber hinaus, die nicht registriert wird, die nicht gesehen wird, das sogenannte Dunkelfeld. Wie groß dieses Dunkelfeld ist, das kann man durch kriminologische, sozialwissenschaftliche Studien abschätzen.
Würde sich der Befund durch Dunkelfeld-Studien komplett ändern?
Nein, das würde es nicht. Auch Dunkelfeld-Studien sprechen dafür, dass die Kriminalität abgenommen hat in den letzten Jahrzehnten in Deutschland. Und auch hier sehen wir teilweise parallele Entwicklung zu dem, was wir aus dem Hellfeld kennen. Aber teilweise gibt es auch Unterschiede, sodass es immer wichtig ist, sich nicht nur auf eine Datenquelle zu berufen, wenn es darum geht, einzuschätzen, wie es mit der Kriminalität insgesamt bestellt ist.
Hören Sie das gesamte Interview mit dem Sozialpsychologen Frank Asbrock im Audio:
Bleiben wir beim Bürger. Welche Faktoren spielen bei der Bewertung des eigenen Sicherheitsgefühls eine Rolle?
Da spielen, wie das meistens bei solchen Phänomenen ist, sehr viele Faktoren rein. Im Vergleich zu diversen anderen Dingen ist der Einfluss der tatsächlichen Kriminalität auf das Sicherheitsgefühl gering. Wir wissen, dass beispielsweise die Vulnerabilität – also wie anfällig Gruppen oder Personen für Kriminalität sind, wie leicht sie zum Opfer werden können – ein Faktor ist. Der kann reinspielen. Oder eine Opfererfahrung: Wenn ich schon mal Opfer gewesen bin, dann reduziert das mein Sicherheitsgefühl. Dann habe ich Angst, dass ich noch mal Opfer werde.
Im Vergleich zu diversen anderen Dingen ist der Einfluss der tatsächlichen Kriminalität auf das Sicherheitsgefühl gering.
Ein Faktor, der wesentlich mehr Einfluss hat, den wir immer wieder in Studien finden, ist die allgemeine Bedrohungswahrnehmung. Das ist die Sicht, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Menschen, die diese Einstellung stark ausgeprägt haben, die nehmen auch wesentlich stärker Kriminalitätsfurcht wahr. Und dieser Faktor ist wesentlich stärker als all die anderen Faktoren, die ich genannt habe.
Wie prägend ist die Migrationsbewegung seit 2015 für die Sicherheit in Deutschland?
Die Migrationsbewegung seit 2015 hat sehr viel mit unserer Gesellschaft gemacht. Aber auch vorherige Migrationsbewegungen. Anfang der 90er-Jahre war das ja auch einmal eine große Debatte in Deutschland. Und natürlich auch schon vorher. Das ist etwas, was in den Menschen immer sehr viele Unsicherheiten hervorrufen kann. Wenn Dinge neu sind, wenn sich Dinge ändern, wenn Menschen in dieses Land kommen und das Gefühl von einem Kontrollverlust bei manchen Menschen dadurch entsteht. Dadurch entstehen Ängste.
Diese Bedrohungsgefühle, die ich vorhin angesprochen habe, steigen dann an, da gibt es Befunde, die das zeigen. Und das erhöht wiederum Kriminalitätsfurcht. Das muss aber noch nicht für einen konkreten Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität sprechen.
Da vermischt sich dann schnell vieles?
Man kann nicht davon ausgehen, dass durch mehr Migration nach Deutschland unbedingt mehr Kriminalität entsteht.
Genau, da vermischen sich viele Dinge. Wir wissen, dass Kriminalitätsfurcht beispielsweise mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zusammenhängt. Also Menschen, die höhere Kriminalitätsfurcht haben, werten auch Fremdgruppen schneller ab. Das kann Fremdenfeindlichkeit sein, das können auch andere Formen von Feindseligkeiten gegen Homosexuelle oder andere gesellschaftliche Minderheiten oder marginalisierte Gruppen sein. Man kann nicht davon ausgehen, dass durch mehr Migration nach Deutschland unbedingt mehr Kriminalität entsteht.
Man denkt aber sofort natürlich an Vorfälle wie in Mannheim oder in Solingen. Wie tief sitzt das in der Wahrnehmung?
Das sind sehr schreckliche Ereignisse. Die haben natürlich immer eine große Wirkung im Moment. Das sieht man ja auch daran, dass nach solchen Ereignissen häufig die Politik Handlungsbedarf sieht, Dinge tut und Grenzen setzen möchte. Oder aktiv erscheinen möchte, um mit der Bedrohung umzugehen. Wie konkret diese Handlungen, die dann folgen, tatsächlich dazu beitragen, solche Phänomene in Zukunft zu vermeiden, das sei dahingestellt. Aber es wird eben was getan.
Durch solche Ereignisse kommt in der Bevölkerung eine gewisse Angst auf, weil darüber berichtet wird und dadurch das Gefühl entsteht, dass das ein sehr, sehr häufiges großes Phänomen ist. Das ist es aber, wenn man es rational betrachtet, nicht. Das ist ein relativ – Gott sei Dank – sehr, sehr selten vorkommendes Phänomen. Aber natürlich hat das einen starken Einfluss auf die Gefühle.
Die Politik reagiert darauf auch, zum Beispiel mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Ist das ein Reflex, der immer mal wieder kommt und dann abebbt?
Das sind erstmal Reflexhandlungen, die natürlich jetzt nicht völlig aus dem Affekt kommen, aber eine schnelle Reaktion auf dieses Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung ausdrücken sollen. Natürlich soll auch der Eindruck vermittelt werden, wir tun was.
Es soll natürlich überhaupt nicht der Eindruck entstehen, dass es keine Kriminalität unter Migrantinnen und Migranten gibt. Und tatsächlich ist es auch so, dass hier auch ein Anstieg zu sehen ist. Was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass mehr Migranten nach Deutschland gekommen sind und dadurch einfach die Grundgesamtheit derer, die kriminell werden können, ansteigt. Dann sind solche Maßnahmen wie die Grenzschließung eine Möglichkeit, damit umzugehen.
Jedoch verstärkt die Politik möglicherweise damit eher das Unbehagen bei Bürgern – und erreicht damit das Gegenteil?
Genau. Allerdings führen solche Maßnahmen eben dazu, dass die Bevölkerung wiederum sieht, das ist scheinbar die Problemgruppe. Die Ausländer als eine sehr heterogene Gruppe, die aber homogenisiert wird, von der gesagt wird: "Wenn wir sie nicht mehr hereinlassen, dann verschwinden diese Probleme."
Aber das ist in dem Zusammenhang nicht so. Taten wie Solingen oder Mannheim, die hängen nicht damit zusammen, dass viele Gruppen hereinkommen, sondern dass Radikalisierungsprozesse stattgefunden haben. Die sind ein Problem und die müssen angegangen werden. Sie haben aber per se nichts mit Grenzkontrollen zu tun.
Das Interview führte Sven Kochale.
MDR (ala,lmb)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 07. Dezember 2024 | 05:00 Uhr
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