Interview Kinderschutzbund: Situation an Kinderkliniken ist "Desaster mit Ansage"
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10. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Den Kinderkliniken droht der Kollaps – eine Katastrophe mit Ansage, findet der Kinderschutzbund. Im Interview fordert Geschäftsführer Daniel Grein, dass unsere Gesellschaft künftig anders auf die Kleinsten blickt und Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Die Kinder seien nicht die Zukunft- sie brauchten eine.
MDR AKTUELL: Wie bewertet der Kinderschutzbund die derzeitige Lage in den Kinderkliniken?
Daniel Grein: Es beschäftigt uns sehr und die Situation an den Kinderkliniken ist eine totale Katastrophe. Dass wir es so weit haben kommen lassen, dass wir wirkliche keine Klinikplätze mehr für Kinder haben, dass wir ein akutes Krankheitsproblem haben und einfach die Versorgung nicht mehr sicherstellen können ist ein Desaster. Aber ein Desaster mit Ansage. Viele haben auf die Situation an den Kinderkliniken hingewiesen, auch wir. Es kann uns daher nicht überraschen. Daher ist es umso schlimmer, dass wir hier gelandet sind.
Wo liegt das Problem?
Die Klinikorganisation ist nicht unser Steckenpferd. Aber die Idee der Fallpauschalen, die natürlich mit einem sehr ökonomischen Anreizsystem die Bewirtschaftung von Kliniken steuert, die hat ganz offensichtlich nicht die bestmögliche Versorgung von Kindern im Blick. Kinder müssen anders versorgt werden. Kliniken brauchen etwa 30 Prozent mehr Personal. Es reicht nicht, wenn die Krankenschwester einmal am Tag zur Visite vorbeikommt. Kinder brauchen ganz intensive Begleitung. Dennoch sind die Fallpauschalen ähnlich wie bei Erwachsenen.
Was ist die Konsequenz daraus?
Wir befinden uns am Ende einer Abwärtsspirale. Wir wissen, dass Kinder mehr Kosten verursachen. Jeder, der rechnen kann, stellt fest, dass sich das für Krankenhäuser nicht rentiert. Wenn sich etwas für Krankenhäuser nicht rentiert, dann wird gespart – vor allem beim Personal. Das erzeugt dann die Abwärtsspirale, an deren Ende wir uns jetzt befinden.
Wir befinden uns am Ende einer Abwärtsspirale.
Wissen Sie, ob und wie Kinder die Situation wahrnehmen?
Ich glaube, dass die aktuelle Situation für Eltern sehr beängstigend ist und die aktuelle Berichterstattung auch für Kinder sehr beängstigend sein kann. Sie fragen sich bestimmt schon: Was bedeutet das denn eigentlich für mich?
Wo liegen aus Ihrer Sicht die Probleme der Kindermedizin?
Die Kinderkliniken sind nur die Spitze des Eisbergs. Ein krankes Kind landet ja nicht automatisch in der Klinik. Wir haben eine Überlastung bei Kinderärzten und auch das schon seit Jahren. Genauso lange diskutieren wir schon über die Verfügbarkeit von spezifischen Medikamenten für Kinder. Ob es Fiebersaft in der Apotheke gibt oder nicht, sind relativ entscheidende Dinge für die häusliche Pflege von kranken Kindern. In einem ökonomisierten Gesundheitssystem funktioniert das offensichtlich nicht, weil Kinder nicht die Marge ausmachen und nicht profitabel sind und deshalb keine Priorität haben.
Ist unser aktuelles Gesundheitssystem für Kinder geeignet?
Wir als Kinderschutzbund sagen: Nein, auf keinen Fall. Die Kinderrechtskonvention, die in Deutschland rechtlich verankert ist, sagt: Wir müssen eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für unsere Kinder herstellen. Bestmöglich kann das nicht sein, was wir hier in Deutschland unseren Kindern derzeit anbieten.
In der Corona-Pandemie wurde von jungen Menschen zum Schutz der älteren Generationen viel Solidarität verlangt. Wieso kann man jetzt den Eindruck gewinnen, dass die Erwachsenen kaum Solidarität mit den Kindern zeigen, die gerade offensichtlich Hilfe bräuchten?
Ich kann nur feststellen, dass die Notwendigkeiten des Aufwachsens in der Kindheit zwischenzeitlich hinten angestellt wurden. Freunde besuchen, Entwicklungsaufgaben, Bildung genießen, draußen rumtoben – das galt zwischenzeitlich ja fast als Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsenses und als frevelhaft. Jetzt haben wir eine Situation, wo es vor allem die Kinder trifft und aus einem gesamtgesellschaftlichen Problem wird ein spezifisches. Die Wirtschaft wird gerade nicht runtergefahren, nur weil Kinder krank sind. Das ist bei kranken Arbeitnehmenden offensichtlich anders.
Wieso konnte es zu einem solchen Kollaps der Kindermedizin kommen?
Wir diskutieren Kinder-Themen häufig zu spät. Jetzt haben wir ein Gesundheitssystem, das sehr wackelt. Deswegen diskutieren wir jetzt darüber. Aber wir haben verschiedene Systeme für Kinder und Jugendliche, die wackeln, aber über die kaum diskutiert wird. Etwa die Schule oder die Ganztagsbetreuung. Wir lesen dauernd, wie viel Fachkräfte fehlen. Wir sehen, wie heruntergekommen Schulen sind. Das ist eigentlich alles schon Allgemeinwissen. Ich frage mich: Kollabiert hier wieder ein System, wo wir dann erschrocken draufschauen und uns fragen: Wie konnte das passieren?
Wieso haben Kinder offenbar keine Lobby, um diese Probleme zu beseitigen?
Wir neigen dazu, in dieser in der Gesellschaft auf andere zu zeigen. Kommunen, Länder und Bund zeigen gern aufeinander. Wir haben auch ein etwas zersplittertes Verantwortungssystem. So ein bisschen nach dem Motto: Es müsste doch der Andere regeln. Dieses aufeinander zeigen bremst uns aus. Dieser Art von Subsidiarität im Föderalismus macht uns sowohl im Bildungssystem als auch im Gesundheitssystem wirklich kaputt. Und Kinder und Jugendlichen bleiben da auf der Strecke.
Fehlt den Kindern politische Macht?
Ja, wir können da mehrere Faktoren heranziehen. Kinder sind in der Tat kein Wahlvolk. Die haben keine aktive Stimme in unseren Prozessen. Sie werden auch immer als eine Gruppe angesprochen und nicht so differenziert, wie wir es bei Erwachsenen tun. Dazu sehen wir Kinder oft als unfertig, haben als Gesellschaft einen paternalistischen Blick. Deswegen weiß die Gesellschaft oft besser über Kinder Bescheid als die Kinder selber. Das ist natürlich Unsinn. Wir müssen Kindern eine Stimme geben. Deswegen fordern wir als Kinderschutzbund, dass die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Je mehr Kinder Einfluss auf Politik haben, desto mehr wird sich Politik auch an ihnen ausrichten.
Sind uns Kinder zu wenig wert?
In der Tat sollten uns Kinder viel wert sein. In Sonntagsreden hören wir das auch mal, was für ein besonderes Gut Kinder sind. Ich warne aber vor dieser Haltung. Wir sehen in Kindern im besten Falle Fachkräfte, Renteneinzahler oder Pflegekräfte – eben alles, was wir brauchen. Wir sehen in den Kindern viel Potenzial im Sinne der Verwertbarkeit. Aber wir müssten das anders sehen: Welches Potenzial haben Kinder jetzt für sich selbst? Wir sollten sie als Subjekte ernst nehmen und ihre Entwicklung unterstützen und uns nicht fragen, was sie uns in Zukunft nützen. Wir sollten da weniger von uns Erwachsenen ausdenken. Kinder sind nicht unsere Zukunft, sondern Kinder brauchen ihre Zukunft.
Kinder sind nicht unsere Zukunft, sondern Kinder brauchen ihre Zukunft.
Wie sieht es international aus? Gibt es Länder, die es besser machen?
Es gibt jetzt kein Ranking. Aber es fehlt uns auch nicht an Vorbildern. Es mangelt an gesellschaftlichen Willen, die Kinder in den Fokus zu nehmen. Und dass wir etwas gesellschaftlich verändern können, haben wir in der Pandemie gelernt. Deswegen sind wir als Kinderschutzbund auch nicht bereit zu sagen, dass Dinge nicht funktionieren können. Ich glaube, wenn die Gesellschaft sich aufmacht, etwas verändern zu wollen, dann kann man das auch. Vielleicht ist das jetzt auch der Anlass zu sagen, dass das Fass übergelaufen ist und jetzt ändern wir auch mal was. Ich glaube, wir sind im Moment keine besonders kinderfreundliche Gesellschaft. Das muss sich aber ändern.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 10. Dezember 2022 | 06:00 Uhr