Wenn Kinder töten Experten nach Freudenberg: Schuldfähigkeitsalter sollte nicht gesenkt werden
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16. März 2023, 17:34 Uhr
Eine Zwölfjährige stirbt nach mehreren Messerstichen. Getötet wurde sie mutmaßlich von zwei gleichaltrigen Mädchen. Der tragische Fall in Freudenberg setzte auch eine Debatte um Strafmündigkeit in Gang. Derzeit liegt die Altersgrenze bei 14 Jahren – und das sollte Rechtsexperten zufolge auch so bleiben.
- Der Fall in Freudenberg ist statistisch gesehen eher ein Einzelfall.
- Die lautwerdende Forderung, die Altersgrenze der Strafmündigkeit nach unten zu setzen, lehnen Experten ab.
- Grund dafür ist die neurowissenschaftliche Datenlage.
Pro Woche werden in Deutschland im Schnitt zwölf bis 13 Morde verübt. In den seltensten Fällen sind dabei Kinder oder Jugendliche Täter oder Täterin. Der Fall der 12-jährigen Luise, die im nordrhein-westfälischen Freudenberg von zwei Gleichaltrigen getötet worden sein soll, ist statistisch gesehen eine absolute Ausnahme.
Das bestätigt auch Nadine Bals, Professorin für Soziologie und Politikwissenschaften an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen: "Freudenberg ist ein schrecklicher Einzelfall, der betroffen macht. Aber so etwas kommt tatsächlich sehr sehr selten vor."
Nach der polizeilichen Kriminalstatistik habe es in den letzten 20 Jahren jährlich zwischen vier und 21 Fällen von versuchten und vollendeten Tötungsdelikten durch strafunmündige Kinder gegeben.
Gesetz schützt bei Strafunmündigkeit
Weil die mutmaßlichen Täterinnen im Fall Luise zwölf und 13 Jahre alt sind, greift für sie das deutsche Strafrecht nicht – und auch nicht das Jugendstrafrecht. Laut Strafgesetzbuch ist eine Person schuldunfähig, wenn sie bei Tatbegehung noch nicht das 14. Lebensjahr erreicht hat. Als Jugendlicher gilt nach dem Jugendgerichtsgesetz, wer zur Tatzeit zwischen 14 und 18 Jahre alt ist.
Das Gesetz schützt also Täterinnen und Täter, die strafunmündig sind. Der Vorsitzende des Thüringer Richterbundes, Holger Pröbstel, sieht keinen Grund, das zu ändern: "Aus gutem Grund hat der Gesetzgeber die Strafmündigkeit von Kindern bis zu 14 Jahren ausgeschlossen und ich meine, dass das nach wie vor auch noch richtig ist."
Verschiebung der Strafmündigkeitsgrenze eher nach oben möglich
So sieht es auch der Kriminologe und Strafrechtler Ralf Kölbel, Professor an der Universität München: "Eine Verschiebung der Strafmündigkeitsgrenze nach unten kommt aus meiner Sicht überhaupt nicht in Betracht. Das wird in der wissenschaftlichen Diskussion auch überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Wenn, dann denkt man darüber nach, die Strafmündigkeitsgrenze nach oben zu verschieben."
Neurologischer Reifeprozess entscheidend
Tatsächlich finde im Alter zwischen 13 und 15 ein Prozess statt, den Juristen Reifesprung nennen, sagt Kölbel. Erkenntnisse der Neurowissenschaften deuteten darauf hin, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts bis Mitte 20 geboten sei, unterstreicht auch Nadine Bals. "Wir sehen hier, dass das Gehirn dann noch in Entwicklung ist. Und wir auch dann noch nicht davon ausgehen können, dass die Reife wirklich vollständig erreicht ist."
Die Impulskontrolle ist teilweise mit 25 noch nicht ganz ausgereift. Und noch weitere Faktoren enthebelten das Argument, dass Kinder immer früher reifer würden, erklärt der Strafrechtler Kölbel: "Auch in einer sozialen Hinsicht ist es ja so, dass sich die Ausbildungszeiten immer weiter verlängern. Dass sich die Abhängigkeit der nachwachsenden Generationen von den Elternhäusern nicht etwa verkürzt, sondern nach Hinten hinausschiebt."
Die normale psychosoziale Entwicklung gehe also keinesfalls schneller vonstatten. Auch die Entwicklungsaufgaben, die im Jugendalter zu absolvieren sind, nehmen dem Kriminologen zufolge eher zu als ab.
Abschreckungsstrafen erhöhen Rückfallquote
Außerdem zeigt die Forschung: Strafen, die primär auf Abschreckung zielen, erhöhen die Rückfallquote. Und genau das will das Jugendstrafrecht verhindern. Hier geht es nicht um Abschreckung, sondern um Erziehung.
Dass in Fällen wie der getöteten Luise nichts weiter mit den minderjährigen Täterinnen passiert, ist ebenfalls ein Trugschluss. Das Kinder- und Jugendhilferecht sieht hier auch verpflichtende Maßnahmen vor – bis dahin, dass straffällige Kinder in die Obhut des Staates oder in geschlossene psychiatrischen Einrichtungen gegeben werden können.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 16. März 2023 | 06:00 Uhr