"Feindbildstudie" Zunehmende Medienfeindlichkeit: Zahl der Angriffe auf Journalisten erneut gestiegen
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16. April 2024, 12:28 Uhr
Die Zahl der Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen. Das ist das Fazit der neuen "Feindbildstudie" des European Centre for Press and Media Freedom, das seit 2015 die Gewalt gegen Medienschaffende analysiert. Die meisten Übergriffe gab es seither in Sachsen. Co-Autor Patrick Peltz spricht von einer zunehmenden Medienfeindlichkeit.
- 2023 gab es erneut mehr tätliche Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten als im Jahr zuvor.
- Co-Autor Patrick Peltz sieht eine zunehmende Medienfeindlichkeit.
- Aus Angst vor rechtsextremer Gewalt findet im Lokaljournalismus teilweise eine Selbstzensur statt.
Die Zahl der körperlichen Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten ist im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 wieder gestiegen. Das ergab die neue "Feindbildstudie" des European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF). Im Jahr 2022 verifizierte das Zentrum demnach 56 Fälle von physischen Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten – 2023 waren es 69 Fälle.
Seit vier Jahren befänden sich die jährlichen Zahlen von Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten auf einem hohen Niveau, heißt es in der Studie. Vor der Corona-Pandemie habe es noch deutlich weniger Angriffe gegeben: Zwischen 2015 und 2019 seien es durchschnittlich 23 Fälle pro Jahr gewesen. Doch auch nach der Pandemie und der Querdenken-Bewegung-Proteste seien die Zahlen tätlicher Angriffe hoch geblieben.
30 Prozent der Übergriffe in Sachsen
Das Misstrauen in Medien habe sich zunehmend zu einer Medienfeindlichkeit entwickelt, sagte der Co-Autor der Studie, Patrick Peltz: "Medienfeindlichkeit äußert sich nicht mehr nur in den mittlerweile zum Alltag von Journalistinnen und Journalisten gehörenden Lügenpresse-Rufen, Beleidigungen und Bedrohungen, sondern seit vier Jahren auch in einer erhöhten Zahl gewalttätiger Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten."
Der Studie zufolge hat Berlin Sachsen 2023 als Spitzenreiter bei der Zahl der Angriffe im Vergleich zum Vorjahr abgelöst. Sachsen verzeichnete mit 13 Fällen zwar mehr als im Vorjahr, Berlin weise mit 25 tätlichen Angriffen aber einen deutlich höheren Wert auf. Von den 25 Fällen ereigneten sich 21 im Umfeld pro-palästinensischer Demonstrationen. Dort sei es zu einer Vielzahl von tätlichen Angriffen, (antisemitischen) Beschimpfungen und Bedrohungen gekommen.
Insgesamt ist Sachsen laut der Studie seit 2015 aber nach wie vor das Bundesland mit den meisten tätlichen Angriffen. Von 390 Fällen, die seit Beginn des Monitorings erfasst wurden, entfielen 117 auf den Freistaat. Das entspreche exakt 30 Prozent. 92 der insgesamt 117 Fälle würden als politisch rechts eingestuft.
In Thüringen gab es laut der Studie im vergangenen Jahr vier Fälle von Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten. In Sachsen-Anhalt habe es keine Übergriffe gegeben.
Selbstzensur im Lokaljournalismus
In Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) hat das ECPMF auch die Bedrohungslage des Lokaljournalismus beobachtet. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl physischer Angriffe auf Lokaljournalistinnen und -journalisten demnach gesunken. Insgesamt seien sieben physische und acht nicht-physische Angriffe registriert worden. Im Jahr 2022 habe die Anzahl physischer Angriffe noch bei 12 gelegen.
Die fehlende Anonymität im Lokalen könne ein Sicherheitsproblem für Lokaljournalistinnen und -journalisten darstellen, heißt es in der Studie. In Sachsen berichteten Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel nicht mehr über bestimmte Themen, da sie vor Ort sonst einer rechtsextremen Bedrohung ausgesetzt wären.
Peltz: Bedenkliche Entwicklung für Pressefreiheit
Co-Autor Peltz bezeichnete das als eine bedenkliche Entwicklung für die Pressefreiheit in Deutschland: "Insbesondere vor den anstehenden Kommunal-, Landtags- und Europawahlen in diesem Jahr in Sachsen, bei denen zahlreiche Rechtsextreme antreten, ist eine kritische Berichterstattung enorm wichtig."
Journalistinnen und Journalisten, Verbände, Medienhäuser und auch viele staatliche Institutionen hätten inzwischen als Reaktion auf die gestiegene Bedrohungslage Gegenmaßnahmen entwickelt. Immer mehr Medienhäuser böten ihren Mitarbeitenden beispielsweise psychologische Beratungsangebote an.
Auch der polizeiliche Medienschutz habe sich insgesamt verbessert. Allerdings falle die Qualität sehr unterschiedlich aus. Journalistinnen und Journalisten berichteten immer wieder von Fällen, in denen sie nicht ausreichend geschützt oder selbst Ziel polizeilicher Maßnahmen wurden.
Insgesamt besteht der Studie zufolge nach wie vor erheblicher Bedarf, bestehende Schutzmaßnahmen zu verbessern und weitere zu schaffen. Co-Autorin Alina Haynert sagte, immer noch gebe es erhebliche Schutz- und Unterstützungslücken. "Diese beeinträchtigen besonders frei berufliche Journalistinnen und Journalisten, die vor allem von den Schutzstrukturen der Medienhäuser oft nicht zu profitieren scheinen. Gleichzeitig sind sie es aber, die überproportional von tätlichen Angriffen betroffen sind", sagte Haynert. Im Jahr 2023 waren in 41 von 69 Fällen freiberuflich arbeitende Journalistinnen und Journalisten Angriffen ausgesetzt.
MDR/ECPMF (jst)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 16. April 2024 | 17:45 Uhr