Frauenhand hält Handy über Weltkarte auf Tisch. Darauf eine Karte in Robinson-Prokektion mit Süden nach oben und Fragezeichen. Alte Spiegelreflexkamera an Seite. 3 min
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Kartografie und Geodäsie Nehmen Sie den Globus: Warum Karten uns immer noch ein falsches Bild der Welt liefern

17. Juli 2024, 16:12 Uhr

Wer hat bei einer Weltkarte nicht das Gefühl, dass die Landmassen alle irgendwie nach unten hängen? Das liegt daran, dass unser Gehirn stets versucht, einen Sinn in den Sinneseindrücken zu finden. Deshalb sehen auch Italien wie ein Stiefel und Skandinavien wie ein Tiger aus. Blöd nur, wenn unser Blick auf die Welt von vornherein verzerrt ist. Mit den Karten, die wir benutzen, ist das ein unumgängliches Problem. Aber warum eigentlich? Und warum eigentlich immer noch?

Junger Mann mit Bart, runder schwarzer Brille, schwarzem Basecap vor Roll-Up-Plane mit Logo von MDR WISSEN
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Das ewige Dilemma mit den Weltkarten kann im Prinzip jeder selbst nachspielen. Zumindest dann, wenn gerade Zitrusfrüchte Saison haben: "Stellen Sie sich die Schale einer Orange vor, für die Oberfläche der Erde, die Sie in die Ebenen plätten wollen. Das schaffen sie nicht ohne Schmutz oder ohne Risse, erfahrungsgemäß." Stimmt, je nach Ausgangszustand der Schale endet das schnell in einer mittleren Sauerei. Oder, um es etwas bildungsbürgerlicher auszudrücken, so wie Jochen Schiewe: "Das schaffen Sie nicht verzerrungsfrei."

Was der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kartografie hier illustriert, heißt so viel wie: Was rund ist, kann mathematisch gesehen niemals flach werden. Er kennt das Dilemma nur zu gut: Eine Karte der Erde geht nicht ohne Kompromisse. "Es gibt rund 400+ bekannte Projektionen. Alle haben ihre speziellen Daseinsberechtigungen für bestimmte Zwecke." Das ist dann auch die Antwort, die man hört, wenn man ihn nach seiner Lieblingsprojektion fragt. Also nach der von ihm bevorzugten flachen Darstellung unserer Kugel. Geht nicht, von Berufs wegen.

Mercators Weltkarte: 500 Jahre alt, immer noch angesagt

Die bekannteste Projektion ist bald ein halbes Jahrtausend alt und trotzdem so angesagt, als hätte die Idee erst kürzlich Millionen Upvotes bei Reddit ergattert. Der Kartograf Gerhard Mercator hatte die nach ihm benannte Mercator-Projektion damals eigentlich zu Navigationszwecken entworfen. Es bot sich an, die Welt als abgerollten Zylinder darzustellen. Vorteil: Eine gerade eingezeichnete Linie entsprach auch in der Natur einem geraden Kurs. Aber diese sogenannte Winkeltreue geht nicht ohne große Ungenauigkeiten in der Fläche. Gerade die Industriestaaten und andere mächtige Länder werden noch mächtiger dargestellt, als sie wirklich sind, die äquatornahen Staaten in Subsahara-Afrika behalten ihre tatsächliche Größe. Das hat, unter Betrachtung der manifestierten Privilegien in der Weltordnung, nun, ein Geschmäckle.

Zeit, den Blick geradezurücken. Das Websiteprojekt truesizeofcountries.com macht da einen ganz guten Anfang. Deutschland, Frankreich, Norwegen – alles Winzstaaten:

Ein Kartenausschnitt von Europa und Afrika bis Äquator zeigt, dass viele europäische Staaten viel kleiner sind als sie auf der Mercator-Projektion dargestellt werden. Je näher am Äquator desto geringer der Größenunterschied.
Bildrechte: MDR WISSEN/truesizeofcountries.com

Die wahre Größe von Deutschland und Russland

"Der Einsatz, also gerade für Bildung, Schulen und Journalismus, ist ja schon sehr fragwürdig, weil in den reichen Ländern gerade dadurch das Gewicht der Landmassen natürlich sehr stark verzerrt wird." Das sagt Holger Kumke, Wissenschaftler am Institut für Kartografie der TU München. Das wohl berühmteste Beispiel: Beim Blick auf die Mercator-Karte könnte man nämlich schnell den Eindruck bekommen, Grönland und Kanada seien so groß wie der afrikanische Kontinent, dabei passt Grönland da ganze 14 Mal rein. Und Brasilien, Indien, China und die USA bekäme man auch unter. Mit dem Tool thetruesize.com lässt sich das gut nachspielen. Deutschland wird noch kleiner als es ohnehin schon ist – und Russland bleibt zwar das größte Land der Welt, lässt aber auf einmal zwischen Guinea-Bissau und Turkmenistan platzieren:

Umrisse Russlands und Deutschlands in Originalgröße über Karte der Nordhälfte Afrikas gelegt 1 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

00:11 min

https://www.mdr.de/wissen/videos/video-true-size-die-wahre-groesse-deutschland-russland-100.html

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Dass der Globale Norden im Vergleich zum Globalen Süden bis zur völligen Überlegenheit verzerrt, ist keine neue Erkenntnis, sondern wird schon lange kritisiert. Sogar Mercator selbst empfand die Karte zu Bildungszwecken als ungeeignet. Und das, wo es damals kaum jemanden gestört haben dürfte, dass sich das gerade die Welt erobernde Europa etwas größer macht als es eigentlich ist. Die Frage muss also lauten: Wieso hält sich dieser Blick auf die Erde so hartnäckig?

Warum halten wir an der Mercator-Projektion fest?

Holger Kumke von der TU München wundert der Erfolg in der Neuzeit kaum. Karten hätten in der Unterhaltungselektronik eine Renaissance erfahren. Mit den Informationen, die wir über unser Leben sammeln – Fotos, Messdaten, Geo-Informationen – lassen sich eben super Geschichten erzählen, auch mithilfe von Karten. "Und da unsere Endgeräte ja rechteckige Bildschirme haben, ist natürlich eine Zylinderprojektion, also eine rechteckige Projektion, ideal dafür."

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

Prof. Dr. Jochen Schiewe über die Mercator-Projektion

Hinzu kommt: Die Mercator-Projektion lässt sich leicht in Kacheln teilen und kommt insgesamt mit wenig Rechenleistung aus. Zwar haben große Kartendienste wie Apple Maps und Google Maps zumindest (und ausschließlich) bei der Darstellung in ihren eigenen Apps nachgebessert. Microsoft, Here WeGo und das offene Projekt OpenStreetMap (und damit auch der ADAC) setzen allerdings weiterhin auf Mercator. Kartograf Jochen Schiewe vermutet, dass das auch pragmatische Gründe haben könnte: "Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Selbst wenn die Navigation nicht der Anwendungsweg ist, greift man leider gerne auch auf Altbewährtes und Bekanntes zurück."

Kartografie und Geodäsie Bevor Kartografinnen und Kartografen eine Karte erstellen können, müssen Geodätinnen und Geodäten erstmal Stadt und Welt vermessen. Die Fachrichtungen gehören zusammen – aber gerade in der Geodäsie fehlt es an Nachwuchs.

Wie festgefahren wir in unserem Weltblick sind, zeigt schon allein unsere etwas merkwürdige Idee von oben und unten. Also einfach mal die Karte drehen – dank zeitgenössischer Karten-Apps bleibt die Schrift sogar lesbar ausgerichtet. Da es im Weltraum kein Oben und Unten gibt, könnten Karten auch von Süd nach Nord ausgerichtet sein. Da wirken Afrika, Australien und Südamerika gleich präsenter. Und das ganze Wasser, das wir auf der Welt haben. Im großen Maßstab hilft diese verkehrte Welt im Übrigen auch, wenn einem der Heimatort zu langweilig vorkommt – einmal gedreht entpuppt sich ein ganz neuer Blick auf die Stadt. Aber vielleicht tut es auch einfach eine andere Projektion: Etwa die Robinson-Projektion, sagt Schiewe. Die ist für Bildungszwecke schon mal deutlich geeigneter und weist nur im Bereich der Pole relativ große Abweichungen auf. Oder die Variante von Goode, eine flächenneutrale Variante, mit dem Preis, dass sie etwas zerschnippelt aussieht.

Robinson-Kartenprojektion: Erde als gestauchter Ball ohne sehr große Verzerrungen im höheren Norden und tieferen Süden, nur an den Polen. Goode-Projektion: Erde in drei Scheiben aufgeteilt, links und rechts eiförmig, Mitte etwas runder
Bildrechte: MDR WISSEN/FlexProjector

Zerschnippelt sind auch zerlappte Schmetterlingsprojektionen, für die sich Jochen Schiewe bei aller Neutralität aufgrund der Ästhetik dann doch sehr begeistert. Holger Kumke im Übrigen auch – scheint wohl so ein Ding zu sein, unter Kartografen.

Mädchen mit längern blonden Haaren steht mit Rücken zur Kamera vor einer kindgerechten Weltkarte in Mercator-Projektion
Ob nun schön bunt oder nicht: Mercator-Projektionen wie hier sind fürs Klassenzimmer ungeeignet. Bildrechte: imago/Westend61

Mercator nur dort, wo Mercator auch hingehört? Eigentlich kein Problem

Zurück zur Praxis: Schiewe zufolge brauche es eigentlich nur etwas Willen in der Softwareentwicklung. Da sei eine Umwandlung der dargestellten Karte in eine passendere Projektion prinzipiell sehr einfach möglich. Letztendlich haben aber alle Versuche, die Erde flach darzustellen, ihre Nachteile. Zum Beispiel die zeitweise von den Vereinten Nationen verwendete Peters-Projektion. Aus einer politischen Motivation heraus hatte sich Arno Peters an einem älteren Projektions-Entwurf seines Kollegen James Gall bedient und offenbar auch die gleichen Fehler gemacht. Na ja, sorgte zumindest für eine Kontroverse. Praktisch gesehen ist die Darstellung zwar flächentreu, aber die halbe Welt unschön in die Länge gezerrt.

Dabei geht es auch ganz ohne Kompromisse, sagt Schiewe: "Die beste Alternative, alle geometrischen Eigenschaften zu bewahren, ist immer noch der Globus." Zwar sei die Bedienung unhandlicher als die eines Smartphones. Aber einmal ins Kinderzimmer gestellt, würden auch Eltern und Großeltern von dieser Weltsicht profitieren, findet Jochen Schiewe. Außerdem gibt es Globen auch als Gummiball zum Aufblasen. So spart man sich bei Flachdrückversuchen die Orange.

Globus 1 min
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Di 09.06.2020 12:04Uhr 00:48 min

https://www.mdr.de/wissen/karten-vermitteln-falsches-weltbild-102.html

Rechte: MDR

Globus 1 min
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Di 09.06.2020 12:04Uhr 00:48 min

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 18. Juli 2024 | 00:00 Uhr

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