Buchtipp der Woche Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern
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08. Mai 2022, 15:00 Uhr
Beim Stichwort "Atlas" denken die meisten vermutlich an den Erdkunde-Unterricht damals in der Schule. Doch ein neues Sachbuch zeigt, dass so ein Atlas viel mehr bieten kann – und nicht an den Grenzen der Geo-, Raum- und Umweltwissenschaften enden muss, sondern sogar den Geheimnissen der Menschheit auf die Spur kommen kann. MDR WISSEN-Autorin und Podcasterin Daniela Schmidt hat sich das Buch näher angesehen.
Ein "Best Of" verschiedener Forschungsgebiete
Worum es im "Atlas des Unsichtbaren" geht, lässt sich sehr kurz beantworten: ungefähr um alles, was mit uns Menschen und unserem Leben auf diesem Planeten zu tun hat. Nicht nur in klassischen Landkarten, sondern in allen nur denkbaren Arten grafischer Spielerei machen die Autoren Sachverhalte und Zusammenhänge sichtbar, für die es sonst seitenweise Statistik-Tabellen und Erläuterungen bräuchte.
Klar finden sich darunter einige Themengebiete, die man in einem modernen Atlas durchaus erwarten kann: Wo ist die Lichtverschmutzung durch den Menschen am größten? Wie hat sich die Landflucht in Asien in den letzten Jahren entwickelt? Doch die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti gehen über diese klassischen Themengebiete noch weit hinaus – zum Glück, möchte man sagen, denn am spannendsten, überraschendsten und packendsten ist der „Atlas des Unsichtbaren“ vor allem da, wo er sich Komplexen widmet, die man weder in einem Atlas erwarten würde noch für kartografisch darstellbar hält: Woher kommt der Mensch? Wie funktioniert unsere DNA? Warum wird es bei Flügen künftig häufiger zu Turbulenzen kommen? Mit welchem Pass kann man am einfachsten um die ganze Welt reisen?
So picken sich die Autoren die spannendsten Rosinen aus den Bereichen Geschichte, Archäologie, Biologie, Soziologie, Weltpolitik und Ökologie, um uns die Menschheit und ihre Spuren auf der Erde in vier Kapiteln besser verstehen zu lassen: "Woher wir kommen", "Wer wir sind", "Wie es uns geht" und "Was uns erwartet".
Vorsicht: Zeit-vergessen-Falle!
Der "Atlas des Unsichtbaren" ist kein Buch, das man zwischendurch kurz "wegsnacken" kann. Wer es aufklappt, sollte sich ein wenig Zeit nehmen. Klar, manche der dargestellten Sachverhalte erschließen sich schnell, etwa der weltweite "Glücksatlas": Je fröhlicher das abgebildete Smiley lacht, desto glücklicher ist die Bevölkerung des jeweiligen Landes im Durchschnitt. Logisch! Doch dann fällt auf, dass auf der Doppelseite noch weitere Legenden abgebildet sind, und es wird klar: Die mimischen Details der Smileys geben Auskunft darüber, wie der Faktor Glück genau erhoben worden ist, und ihre Größe sagt uns, wie groß das Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Landes ist.
Und schon beginnt man als Leserin, sich immer tiefer auf der Doppelseite zu verlieren: Warum scheinen Wirtschaftskraft und Lebenszufriedenheit in Europa miteinander zu korrelieren, in Asien aber nicht? Wo besteht Glück vor allem aus der Abwesenheit von negativen, wo aus der Anwesenheit von positiven Gefühlen? Warum ist die Stimmung in Estland blendend, in Lettland aber eher im Keller?
Nach diesem System funktioniert der „Atlas des Unsichtbaren“: Jede Karte, jede Grafik, jedes Flussdiagramm beinhaltet stets mehrere Ebenen und Aspekte, in die man sich ein wenig "hineinstudieren" muss – um sich dann richtig darin zu verlieren. Warnung: Dieses Buch ist ein klassischer Kandidat für die "Nur mal kurz ein bisschen blättern... Huch, wo ist denn plötzlich die Zeit geblieben?"-Falle.
Wissenschaft und Kunst vereint
James Cheshire ist Professor für Geografische Information und Kartografie am University College London. Er ist der Mann hinter dem "Atlas des Unsichtbaren", der für das Wissenschaftliche zuständig ist, in diesem Fall eben: die Beschaffung, Bewertung und Interpretation riesiger Datenmengen.
Dass diese auch für uns Lesende nicht nur begreiflich, sondern sogar attraktiv und unterhaltsam werden, darum kümmert sich dann wiederum der Künstler und Designer Oliver Uberti: Er übersetzt die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Grafiken, Karten und Diagramme. Der "Atlas des Unsichtbaren" ist bereits das dritte Buch, für das Cheshire und Uberti in dieser Konstellation zusammenarbeiten.
Wer sich reinfuchst, wird belohnt
Ein Punkt, der den "Atlas des Unsichtbaren" so attraktiv macht, ist, dass er der Leserin oder dem Leser die komplette Freiheit lässt: Will ich mich von vorne nach hinten durchackern – oder mich einfach nur in die Themengebiete vertiefen, die mich interessieren? Die Texte zu den jeweiligen Karten und Grafiken sind kurz und verständlich gehalten; sie sind aber nicht zwingend erforderlich, um die Abbildungen zu verstehen, sondern liefern zusätzliche Hintergründe und Einordnungen. An mancher Stelle doppeln sich Bild- und Textbotschaft allerdings ein wenig.
Neben den Erklär-Texten zu den einzelnen Grafiken beinhaltet das Buch noch einführende Essays, die jedem Kapitel vorangestellt sind, sowie einen ausführlichen Prolog und Epilog. Vor allem diese Texte lohnen sich. Darin finden sich Hintergründe etwa zur Frage, wie das eigentlich funktioniert: Daten erheben über das Pendler-Verhalten von Menschen oder die "Reisewege" eines Virus – und daraus dann eine Weltkarte basteln. Und diese Prozesse sind so anschaulich und bodenständig erklärt, dazu angereichert mit Witz und Anekdoten, dass die Lektüre einfach Spaß macht!
Dennoch ist der "Atlas des Unsichtbaren" ein Buch mit einem gewissen Anspruch: Wer die Darstellungen wirklich durchsteigen will, braucht Zeit, Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen. Für Kinder und Eilige dürfte das Buch eher zu komplex sein. Aber wer sich die Zeit nimmt und sich diesen Atlas, ja: erarbeitet, wird umso reicher belohnt.
Eine neue Faszination wird geweckt
Ein allzu offensichtlicher Punkt ist in dieser Rezension bisher aber liegengeblieben:
Dieser Atlas bietet nicht nur massig Futter für den Kopf, sondern auch eine helle Freude für die Augen.
Jede Karte, jede Illustration, jedes Diagramm ist kreativ, detailreich und zum jeweiligen Thema passend gestaltet: Die Punkte einer Grafik zum Thema Bike-Sharing haben die Form kleiner Fahrräder, die Abgaswolken durch Flugreisen legen sich wie ein schwarzes Spinnennetz über Europa. Das macht optisch einfach Spaß, gerade weil jede Darstellung anders funktioniert und die Leserin neu herausfordert. Und so wird man selbst in Themen, die vielleicht eher jenseits des eigenen Interessengebietes liegen (was haben Frauen in Indien oder Zwangsräumungen in den USA bitte mit mir zu tun?), hineingezogen.
Zugegeben: Der Untertitel des Buches, "Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern", will ein wenig zu viel. Natürlich gibt es im "Atlas des Unsichtbaren" Überraschendes zu entdecken, eine Erschütterung des eigenen Weltbildes bleibt jedoch aus. Was das Buch aber eindeutig schafft, und das ist nicht weniger wert: Es erschafft eine neue Art von Faszination, schärft den Blick für das Kleine im Großen und hilft, die Welt und die Menschheit ein bisschen besser zu überblicken und zu begreifen. Und das ist ja manchmal schon schwer genug.
Die Rezensentin Daniela Schmidt ist bei MDR WISSEN vor allem als Stimme des Selbstversuch-Podcasts "Meine Challenge" unterwegs, für den sie zum Beispiel schon ausprobiert hat, nur noch von Flüssignahrung zu leben oder ihr Schmerzempfinden auszuschalten. Wenn all diese Abenteuer geschafft sind und eine Pause von Arbeit und Freizeitspaß angesagt ist, verliert sie sich gern in guten (Sach-)Büchern – am liebsten über Politik und Gesellschaft, Psychologie, das Gehirn und den menschlichen Körper oder den Weltraum.
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