Seeadler im Oder Delta
Seeadler - heute wieder ganz normal im Oder Delta Bildrechte: Solvin Zankl/ REWILDING EUROPE

Wölfe, Adler, Elche Was Rewilding mit Klimaschutz und Biodiversität zu tun hat

07. Juli 2024, 12:00 Uhr

Am Oder Delta befindet sich Deutschlands einziges Rewilding-Gebiet. Diese Form des Naturschutzes, will ohne viele menschliche Eingriffe auskommen und setzt auf die Rückkehr von wilden Tieren. Auch wenn es beim Zusammenleben zwischen Menschen und Wildtieren durchaus auch Konflikte gibt, bringt Rewilding viele Vorteile für Klima- und Artenschutz.

Mann
Ulrich Stöcker/ Verein Rewilding Oder Delta Bildrechte: Steffen Holzmann/ REWILDING EUROPE

An der Ostseeküste zwischen Polen und Deutschland befindet sich rund um das Stettiner Haff Deutschlands einziges Rewilding-Gebiet. "Rewilding ist ein neuartiger Ansatz des Naturschutzes, der sehr stark auf die Kraft natürlicher Prozesse setzt", erklärt Ulrich Stöcker vom Verein Rewilding Oder Delta. Eine genauere Definition des Begriffes gibt es nicht. Klar ist, die Natur solle sich dabei möglichst frei von Pflegemaßnahmen entwickeln können. "Dabei werden einige Prozesse in Ökosystem gestärkt, sodass sich die Natur innerhalb bestimmter Grenzen selbst entwickeln kann", meint Johannes Schiller vom Umweltforschungszentrum (UFZ) in Leipzig. Seit 2021 begleitet er das Rewilding am Oder Delta mit einem Forschungsprojekt.

Konkret heißt das am Oder Delta beispielsweise, dass Flüsse renaturiert werden. Das soll dann mittelfristig sowohl dem natürlichen Hochwasser- als auch dem Artenschutz dienen. Vor rund zwölf Jahren würde mit den ersten Maßnahmen begonnen, seit 2014 ist die Region als Rewilding-Gebiet anerkannt. Besonders an dem Ansatz ist auch, dass der Mensch mit einbezogen wird – Naturschutz findet dabei nicht nur in abgeriegelten Parks statt, sondern menschliche Aktivitäten gehören dazu. Der Landschaft soll in diesem Kontext auf rund 450.000 Hektar mehr Raum für Wildheit gegeben werden. Neben dem Stettiner Haff gehören dazu Waldflächen, Moore und Flussgebiete.

Zwei Menschen in einem Boot 4 min
Bildrechte: Solvin Zankl/ REWILDING EUROPE

MDR FERNSEHEN Do 04.07.2024 07:56Uhr 04:22 min

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Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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"Die Ökosysteme von intensiv genutzten Agrar- und Kulturlandschaften sind zunehmend verarmt und fragil", erklärt dazu Augustin Berghöfer, ebenfalls vom UFZ in Leipzig. Er begleitet ein Projekt, das in der Gemeinde Rothenklempenow im Oder Delta an der Frage arbeitet, wie die Landschaft in der Region durch Rewilding beispielsweise gegenüber dem Klimawandel resilienter werden kann.

Die Rückkehr der Tiere

Rewilding bedeutet aber nicht nur die Natur sich selbst zu überlassen – das Konzept setzt auch auf die Rückkehr oder die Wiederansiedlung von großen Tieren, große Pflanzenfresser sowie Raubtiere werden als Schlüsselarten gesehen, um ökologische Prozesse zu beschleunigen. "Die Besonderheit im Oder Delta ist, das viele Tiere von selbst zurückgekommen sind", meint dazu Ulrich Stöcker. Dort gibt es zum Beispiel seit einigen Jahren wieder Wölfe, Kegelrobben, Seeadler und sogar Elche. Auf die Erfolge des Rewilding sei das aber nur teilweise zurückzuführen, die Rückkehr der Tiere habe auch damit zu tun, dass die Landschaft in der Region generell noch sehr naturnah sei.

Ein Weißschwanzseeadler.
Seeadler - seit einigen Jahren sind sie im Oder Delta wieder heimisch. Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Die Rückkehr der Tiere ist in dem Konzept kein Selbstzweck – sie übernehmen in den Ökosystemen wichtige Aufgaben. Ein Beispiel: In Rothenklempenow ist zunehmende Dürre ein wachsendes Problem. Dem könnte man jetzt mit technischen Maßnahmen, die Wasser aufstauen, begegnen. "Eine andere Möglichkeit wäre, man erlaubt Bibern, sich in bestimmten Gegenden anzusiedeln", meint Wissenschaftler Berghöfer. Die würden dann auch ihre Burgen bauen, die Wasser aufstauen und dessen Abfluss verhindern.

Rewilding hat in diesem Sinne nicht nur ökologische Vorteile – es spart auch Geld. Statt Naturschutz aktiv zu managen, soll die Natur sich wieder selbst regeln. "Naturschutz ist ein teures Geschäft geworden angesichts der Personaleinsparungen und Mittelkürzungen in den Länderhaushalten", meint dazu Ulrich Stöcker. Gerade in Zeiten von knappen Kassen sei die wirtschaftliche Ersparnis darum ein starkes Argument.

Konflikte zwischen Mensch und Tier

Ein Biber am Wasser
Biber sind Natur-Architekten. Bildrechte: Solvin Zankl/ REWILDING EUROPE

Das verläuft nicht immer problemlos: Biber setzen öfter auch die falschen Flächen unter Wasser, werden dann als Problem wahrgenommen. "Solche Probleme muss man angehen und lösen", meint Berghöfer. "Aber ein Biber bringt im Gegensatz zu einem einfachen Aufstauen viele Vorteile für Artenvielfalt und ökologische Prozesse". Langfristig, so der Wissenschaftler, ergeben sich aus Lösungen, die mit der Natur zusammenarbeiten, mehr Vorteile und weniger Schäden als aus rein technischen.

Eine Herausforderung ist der Umgang mit Wildtieren aber trotzdem: Im Oder Delta gab es rund hundert Jahre lang keine Wölfe, nun ist der Wolf zurück – und sorgt auch für Probleme. Gerade Landwirte versetzt schon seine bloße Anwesenheit in Schrecken. Eine Umfrage in der Region, die Anfang des Jahres veröffentlicht wurde, zeigte, dass Bewohner der Region, zwar die Rückkehr großer Pflanzenfresser wie Elche oder Bisons befürworten, gegenüber von Raubtieren, wie dem Wolf, aber Vorbehalte haben. "Wir müssen jetzt daran arbeiten, wie eine akzeptable Koexistenz mit Tieren, die auch Probleme bereiten, gefördert werden kann", meint Berghöfer. Eine einfache Lösung gibt es nicht.

Das zeigte sich vor einigen Jahren auch an dem Rewilding-Projekt Oostvaardersplassen in den Niederlanden. Nachdem die Populationen von wilden Hirschen, Kühen und Pferden über mehrere Jahre angestiegen war, starben im harten Winter von 2017/18 Tausende der Tiere. Die Projektgründer waren der Meinung, dass die Natur sich selbst regulieren sollte. Daraufhin wurden das Projekt und Rewilding im Allgemeinen weltweit kritisiert.

Rewilding als naturbasierte Lösung für Klimaschutz

Zwei Menschen in einem Boot
Bildrechte: Solvin Zankl/ REWILDING EUROPE

Für Karl Wagner von der Global Rewilding Alliance ist trotz solcher Rückschläge klar, dass Rewilding eine naturbasierte Lösung für Klimaschutz ist: Dazu tragen auch Wildtiere bei. "Rund 170 Wisente in Rumänien führen zum Beispiel zu einer zusätzlichen Speicherung von CO₂, die den Emissionen rund 80.000 Autos entspricht", erklärt er. Damit bezieht er sich auf eine aktuelle Studie der Yale Universität, die zu dem Ergebnis kommt, dass dort Wisente für die Speicherung von bis zu 54.000 zusätzlichen Tonnen CO₂ verantwortlich sind. Die Wisente, auch bekannt als europäische Bisons, wurden im Rahmen eines Rewilding-Projekts am Rande der Südkarpaten ausgewildert. Durch das Grasen der Wildtiere würden Nährstoffe recycelt und der Böden gedüngt, sodass er mehr Kohlenstoff speichere. "Funktionierende Ökosysteme können viel mehr Kohlenstoff speichern als beschädigte", fasst Wagner zusammen.

Umwelt-Ökonom Johannes Schiller ist da etwas kritischer und sieht mit Blick auf das Rewilding Projekt am Oder Delta keine so klare Verbindung zu Klimaschutz. "De facto hat Rewilding erstmal gar nicht automatisch etwas mit Klimaschutz zu tun", meint er. Renaturierung von Flüssen und Rückkehr von Tieren schütze nicht automatisch das Klima. Sinnvoll wäre in der Region in Sachen Klimaschutz beispielsweise, den Druck aus landwirtschaftlichen Flächen zu nehmen, sie weniger intensiv zu nutzen und sie großflächig wieder zu vernässen. Denn viele der Flächen dort sind trockengelegte Moore, die so Kohlenstoff abgeben, während intakte Moore große Mengen an CO₂ speichern. Um das allerdings wirtschaftlich attraktiv zu gestalten, gebe es bisher nur Pilotprojekte und keine "aufgebaute Wertschöpfungskette".

Kemferts Klima-Podcast 41 min
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Pragmatischer Artenschutz

Rewilding geht aber auch weiter als klassischer Arten- und Biodiversitätsschutz ist, meint Karl Wagner. "Rewilding ist pragmatischer", sagt er. Im Vordergrund stehe es, Kreisläufe und Ökosysteme wiederzubeleben. Dabei werde nicht unbedingt auf genetische Korrektheit geachtet. Außerdem bedeute die Rückkehr einiger, großer Tiere auch nicht automatisch eine höhere Vielfalt an Pflanzen und Insekten. "Der Erhalt von Artenvielfalt kann eher ein positiver Nebeneffekt von Rewilding sein", meint Ulrich Stöcker dazu. Im polnischen Teil des Oder Deltas beispielsweise weiden Wisents, dadurch lasse sich eine Zunahme von bestimmten Insektenarten, Pflanzen oder auch Fledermäusen beobachten.

Für Wildnis-Manager Ulrich Stöcker ist aber auch wichtig, dass Rewilding die Beziehung zwischen Menschen und Natur stärkt und "Faszination für Natur" rüberbringt. Im Idealfall sollen daraus auch Einnahmemöglichkeiten entstehen. Im Fall Oder Delta, manchmal auch als "Amazonas des Nordens" bezeichnet, bildet sein Verein dafür Natur Guides aus, die Besucherinnen und Besucher die Region näherbringen sollen. "Für mich liegt das große Potenzial von Rewilding darin, dass es sich um einen systematischen Lösungsansatz handelt. Dafür ist nötig, dass wir aufhören in Silos zu denken", meint Karl Wagner. Statt nur einzelne Aspekte zu betrachten, denke Rewilding Mensch, Natur und Tier zusammen. "Ökologische Prozesse, die wir stark beschädigt haben, wiederherzustellen, ist keine Liebhaberei von Naturschützern – das ist lebensnotwendig für die Menschheit", fügt er hinzu.

Wissen

Covergrafik zur Podcast-Folge von "Meine Challenge": Ich suche die Wildnis. Die Illustration zeigt einen jungen Mann, der mit einem Fernglas in der Hand durch hohes Gras streift. Daneben der Schriftzug: Ich suche die Wildnis. 35 min
Bildrechte: MDR/Jessica Brautzsch

MDR Fr 01.10.2021 12:00Uhr 34:46 min

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 14. März 2024 | 12:00 Uhr

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