Naturschutz Warum wir Wildnis brauchen
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01. Oktober 2021, 15:03 Uhr
Zersiedelung, Jagd, Monokulturen – Natur hat es bei solchen Gegenspielern schwer. Lebensraum und mit ihm das Zuhause vieler Pflanzen- und Tierarten schwindet. Doch dem Weltuntergangs-Szenario gibt es etwas entgegenzusetzen: Wildnis! Ein Gebiet so groß wie 1.000 Fußballfelder verwildert seit zwanzig Jahren in Sachsen-Anhalt. Dort laichen Kröten, brüten Kormorane und nagen Biber. Und noch ein Waldbewohner lässt sich blicken.
Landschaft im Wandel der Gezeiten
Mitten in Leipzigs Innenstadt auf einem Grünstreifen zwischen zwei vielbefahrenen Straßen steht ein Elefant. Der Dickhäuter hat das Vorderbein leicht angewinkelt. Die Ohren sind nach hinten geklappt. Den Blick hat er geradeaus über die Köpfe der Vorbeifahrenden gerichtet. Es ist kein lebender Elefant, sondern eine Abbildung auf einem meterhohen Werbe-Plakat des Zoos, dessen Fläche immerhin bis knapp zur Hälfte mit dem Dickhäuter ausgefüllt ist. So ein großes Tier lässt sich heute nur schwer mit dem Bild einer dicht besiedelten Innenstadt zusammenbringen. Doch bis vor rund 20.000 Jahren war der europäische Waldelefant ein Teil der mitteldeutschen Landschaft, erklärt Nicolas Schoof, Wissenschaftler am Lehrstuhl für Vegetationskunde an der Universität Freiburg im Breisgau. Er könnte also theoretisch durch Leipzig gestapft sein.
Anstelle der Innenstadt unberührte Natur, statt des Schildes ein echter Elefant? "Den Elefanten wieder anzusiedeln, dafür wäre wohl viel gutes Zureden nötig", antwortet Nicolas Schoof. "Wir schaffen es heute nur schwer, große Weidelandschaften mit Rindern und Pferden im Naturschutz zu vermitteln, weil es bedeuten würde, dass man einen Zaun anbringen müsste, und dazu sind Naturschützer oft nicht bereit. Da wäre ein Elefant noch mal ein ganz anderes Kaliber an Überzeugungsarbeit." Dabei wäre zum Beispiel eine alte, heute ungenutzte Militäranlage theoretisch gar nicht so schlecht geeignet für einen Elefanten.
Bevor die letzte große Eiszeit einsetzte und ein Massenaussterben von Säugetieren nach sich zog, soll es streckenweise in Mitteldeutschland ausgesehen haben wie in den Savannen Afrikas. "Man hat völlig vergessen, dass früher auch große Pflanzenfresser gewirkt haben. Vor allem in den niederen Höhenlagen Deutschlands, also in den Ebenen, und in den unteren Berglagen. Da gab es Offenland-Waldlandschaften."
Solche Landschaften mit teilweise offenen und teilweise bewaldeten Flächen boten großen Säugern wie Elefanten Schutz für den Nachwuchs und ausreichend Vegetation zum Fressen., Daher halten Umweltschützer diese Gebiete auch für die vielversprechendsten, wenn sie überlegen, wo größere Säuger wieder ausgewildert werden könnten.
Von der Utopie zum realen kleinen Experimentierfeld
Eine etwas theoretische Debatte freilich. Dass diese Gebiete jenem Zustand wieder so nahekommen, dass Nashörner, Antilopen oder Elefanten einen natürlichen Lebensraum finden, klingt nach Science-Fiction - allerdings mit einem wissenschaftlichen Hintergrund.
Auch die Umweltpädagogin Carol Höger muss bei der Vorstellung, ein Elefant könnte wieder durch Mitteldeutschland wandern, eher schmunzeln. Sie arbeitet für den BUND in einem ehemaligen Tagebaugebiet bei Bitterfeld, in der Goitzsche. Das Gebiet käme durchaus in Frage, eher als manch anderes in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen. "Die Flächen müssten alle groß und unzerschnitten sein", überlegt sie, damit der Dickhäuter ausreichend Platz hätte. "Es müsste Korridore geben, die sie verbinden. Ansonsten ist das hier alles viel zu zersiedelt und zu dicht bewohnt".
Die Goitzsche ist ein Gebiet, in dem sich langsam wieder wilde Natur entwickelt. "Wildnis aus zweiter Hand", fügt die Umweltschützerin hinzu. Vor rund 21 Jahren kaufte die Naturschutzorganisation das Gebiet. Das Areal, aus dem über 80 Jahre im großen Stil Braunkohle gebaggert wurde, sollte zum Natur-Reservat werden. Der BUND gründete eine Stiftung und schützte das Gebiet über einen entsprechenden Eintrag im Grundbuch. Damals war das ein vorausschauendes Vorgehen, denn für Wildnis braucht es neben ausreichend Zeit auch Platz.
"Die Flächen hier im ehemaligen Tagebau, die sind unzerschnitten, großflächig und waren günstig zu erwerben." Man brauchte ganz schön viel Fantasie, angesichts der geschundenen Landschaft an gesunde Wildnis zu denken. "Aber die Idee ging ganz gut auf", sagt Carol Höger heute. Bedrohte Tierarten wie der Rothirsch und Dammwild könnten durchaus auf lange Sicht wiederkehren.
Seit Beginn des Projektes hat sich die Landschaft schon merklich verändert. "Mit manchen Prozessen haben wir gar nicht gerechnet. Zum Beispiel ist ein Trockenrasen jetzt eine feuchte Fläche geworden." Überhaupt sieht man die Rückeroberung der Natur vor allem durch die Rückkehr des Wassers. Grundwasser, das zu Tagebau-Zeiten abgepumpt wurde, bedeckt nun Teile der Landschaft. Dort brüten Kormorane und Seeadler, also Vögel, die sonst selten in Deutschlands Gewässern die nötige Abgeschiedenheit für die Aufzucht der Jungtiere finden. In der Goitzsche hingegen enden Wege urplötzlich im Wasser. Totes Holz vermodert. Ein aktiv gemanagter Mischwald sieht dagegen anders aus, selbst für für den ungeübten Naturbeobachter.
Ist die Goitzsche Landschaft jetzt schon wild?
"Wildnis ist ein sehr weit gefasster Begriff", schlüsselt Nicolas Schoof auf. "Echte Wildnis gibt es in Deutschland eigentlich gar nicht mehr, anders als in den USA, wo unberührte Landschaften schon als Wildnis gelten. Der Nationalpark Bayerischer Wald, der ursprünglicher Wildnis noch am nächsten kommt, ist etwa 50 Jahre alt. Der Nationalpark Yellowstone in den USA dagegen 100 Jahre." Wildnis in Deutschland ist also noch relativ jung.
Der Begriff Wildnis ist recht schwammig. Das kommt daher, dass sich unterschiedliche Bilder und Assoziationen, je nach Kulturen und im Zeitverlauf herausgebildet haben. Damit alle über das Gleiche reden, braucht es eine Definition. Die kommt für die Goitzsche aus der Nationalen Biodiversitätsstrategie Deutschlands aus dem Jahr 2007.
Laut dieser definieren sich Wildnisflächen als "ausreichend große, weitgehend unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete", die grob zusammengefasst natürliche Prozesse gewährleisten, weil sie eine bestimmte Größe haben und damit biologische Funktionen entfalten können.
"Als Benchmark hat man für Deutschland eine Mindestgröße von 1.000 Hektar festgelegt", präzisiert Nicolas Schoof, was in etwa einer Fläche von 1.000 Fußballfeldern entspricht. "Hätten Sie vor ein paar hundert Jahren gefragt, hätten die Menschen es ganz schlimm gefunden, dass hundert Kilometer weiter Wildnis ist. Das Gebiet hätte man schnell urbar machen wollen. Sagen Sie heute Wildnis, weckt das eher die Assoziation eines Allheilmittels." Weil der Mensch so viel auf der Welt zerstört, wird der Begriff Wildnis zu etwas Positivem.
Würde man hundert Personen auf der Straße befragen, die Meisten würden Wildnis wohl mit Wald verbinden.
Um Wildnis als Forschungsfeld greifbar zu machen, hilft es, Wildnis an ein paar Eckpunkten festzumachen. Nämlich daran, dass es ein weitestgehend vom Menschen unberührtes Gebiet ist und eine Größe hat, in denen Nischen für sogenannte Spezialisten entstehen: Tier- oder Pflanzenarten, die sich nur unter bestimmten Bedingungen reproduzieren. Daran können sich Naturschützer und Umweltwissenschaftler:innen orientieren, wenn sie ein Gebiet untersuchen und klassifizieren wollen.
Wildnis vom Aussterben bedroht
Schaut man anhand dieser Defintion, wo auf dem Planeten Erde solche Flächen überhaupt noch vorkommen, erhält man ein ernüchterndes Bild. Forschende errechneten, dass etwa 70 Prozent der noch verbliebenen Wildnis sich auf fünf Länder verteilen: Brasilien, USA, Kanada, Russland und Australien. Das, was an Wildnis noch übriggeblieben ist, ist demnach stark bedroht. Die Prognose der Forschenden: Von den 23 Prozent wilder Landmasse, die noch vorhanden ist, wird, wenn die Menschheit nicht umdenkt, in wenigen Jahrzehnten kaum noch etwas übrig sein.
Insgesamt sollen 30 Prozent an Fläche auf der Erde wieder Wildnis werden. Das fordern Vertreter verschiedener Länder. Auf der Internationalen Biodiversitätskonferenz, der CBD, im chinesischen Kunming im Oktober 2021 wollen sie beraten, wie das Ziel erreicht werden kann. Aus diesem globalen Umdenk-Prozess ist auch Deutschland nicht herauszurechnen. Selbst kleine Gebiete wie die Goitzsche sind dann wichtig, wenn es um die Rückkehr von Wildnis geht.
Wildnis – ein Weg aus der Klimakrise
Auch wenn die Zukunft nicht rosig aussieht, schaut Carol Höger trotzdem nach vorne. Wie die Goitzsche wohl in 30 Jahren aussieht? "Das wird noch lange dauern, bevor das wieder wertvoller Waldboden wird, wie er es früher mal war. Nach der langen Tagebau-Zeit dauert das natürlich. Es ist Wildnis aus zweiter Hand. Aber es wächst ein Ökosystem, in dem bedrohte Tierarten wie Kreuzkröten, Ringelnattern und Biber ein Zuhause finden." Auf der Wildkamera hat Carol Höger sogar schon die mögliche Rückkehr eines großen Säugers beobachtet. Nicht die des Elefanten. Sondern die des Rothirsches. Immerhin.
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