Zwischenmenschliche Beziehungen Vorsatz oder nicht: Warum Lügen so wichtig ist
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27. Dezember 2024, 10:35 Uhr
"Hat gut geschmeckt!" – "Das ist echt schön!" – Mit Vorsatz etwas Falsches zu behaupten, hat zu Weihnachten Hochkonjunktur. Und daran ist auch nichts Schlimmes – solange aus Weißen keine Schwarzen Lügen werden.
Eine steile These zu Beginn: Weihnachten ist das Fest der Lügen, nein, das Festival der Lügen. Spätestens jetzt sollten alle, die noch an den Weihnachtsmann glauben, nicht weiterlesen. Denn nicht nur der Weihnachtsmann ist eine Lüge (manche würden nicht von einer Lüge reden, sondern eher von einer liebenswürdigen Erfindung), sondern das, was wir uns in der Weihnachtsstube so vormachen:
"Oh, die vegetarische Gans schmeckt aber besonders lecker!"
"Grau, meine Lieblingsfarbe! Woher wusstest du das?"
"Schön, dass ihr noch drei Tage länger bleiben wollt!"
Weihnachten muss hier also für ein Phänomen herhalten, das uns im Alltag begleitet, das aber über die Feiertage besonders wichtig ist. Man liest immer mal die Zahl, dass jeder von uns im Durchschnitt 200-mal am Tag lügen würde. Das stimmt wahrscheinlich nicht, sagt Simon Schindler. "Das variiert natürlich ganz breit. Es gibt so eine klassische Studie, wo die Leute alle Gespräche eine Woche dokumentieren sollten, die länger als zehn Minuten gingen." Simon Schindler ist Sozialpsychologe an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung Berlin. Eines seiner Spezialgebiete ist die Lüge. "Und da kam eben raus, dass man ein bis zwei Lügen am Tag erzählt hat. Also in diesen zehn Minuten. Ist auch immer die Frage, wie misst man das, wie erfasst man das."
200 Lügen am Tag? Na, jetzt mal halblang …
Ein bis zwei Lügen am Tag. Also ist die These vom weihnachtlichen Festival der Lügen wahrscheinlich eine unerhörte Übertreibung. Aber was ist damit, dass gerade während der Weihnachtsfeiertage eine bestimmte Form der Lüge um den Weihnachtsbaum schwirrt, wie Mücken an einem lauen Sommerabend um den Gartentisch? Gemeint sind nicht die bösen Lügen aus Politik, Wirtschaft und Beruf, die man eigentlich bestrafen müsste, gemeint sind die schönen, die liebenswürdigen Lügen: Die sogenannten sozialen Lügen.
"Das soziale Lügen ist, wo es eben darum geht, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Weiße Lügen, sogenannte 'white lies' nennt man das in der Literatur", so Schindler. Neben den weißen, den selbstlosen Lügen gibt es noch die schwarzen, die anderen bewusst schaden und die sogenannten blauen Lügen. Das sind die, die Schaden von anderen abwenden sollen, etwa indem man lügt, weil man andere nicht verpetzen will. Eine ganz klassische weiße Lüge ist hingegen, ein Kind für ein Krikel-Krakel-Bild zu loben.
Das soziale Lügen ist, wo es eben darum geht, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten.
Viele würden das jetzt nicht wirklich als Lüge bezeichnen, genauso wie die Geschichte vom Weihnachtsmann. Schindler sagt: Doch, strenggenommen, per Definition, sind auch das Lügen. "Das zentrale Merkmal ist eben ein vorsätzlicher Versuch, Sie jetzt von irgendwas zu überzeugen, von dem ich weiß, dass stimmt nicht. Es gibt natürlich in der Literatur verschiedene Definitionen. Aber ich glaube, damit kann man ganz gut arbeiten."
Und Weihnachten versuchen wir mal mehr oder mal weniger vorsätzlich vorzutäuschen, dass alles genau so ist, wie wir es erwartet haben. Und das ist gut so. Wir wollen das so. Weiße Lügen gehören zu Weihnachten wie die Geschenke, die Gans oder Würstchen mit Kartoffelsalat. Stellen wir uns doch mal Weihnachten ohne weiße Lügen vor.
Weihnachten ohne Lügen? Besser allein!
"Wir können das ja im Selbstversuch mal durchspielen. Wir können ja mal alles sagen, was uns durch den Kopf geht", sagt Simon Schindler. Und dann ist schnell klar: Alle wären nur noch beleidigt, das Fest wäre halb so schön, die Meckerköppe hätten zwar alles gesagt, aber irgendwann würde man beschließen, Weihnachten besser allein zu feiern. "Halte ich für schwierig, weil ich dann ziemlich schnell im Abseits bin, weil soziale Lügen eine Funktion haben."
Andererseits: Wer die brutale Wahrheit, die Gedankenwelt der anderen, Weihnachten nicht ertragen möchte, der muss alle Kleinkinder vom Weihnachtsfest fernhalten. Denn bis zum dritten Lebensjahr können wir noch nicht lügen: "Lügen basiert auf einer sehr wichtigen Fähigkeit des Menschen. Die haben Kinder bis drei Jahre noch nicht so sehr. Bis man dann so merkt: Ah, die anderen denken vielleicht anders, die anderen haben vielleicht eine andere Vorstellung von Realität und dann entsteht so etwas wie Perspektivenübernahme", erklärt Schindler. "So etwas wie Empathie für den anderen. Und damit einher geht eben auch die Fähigkeit: Ich kann ja was anderes erzählen, weil der andere das gar nicht weiß. Und diese Fähigkeit ermöglicht uns dann, so ab etwa vier Jahren, zu lügen."
Wäre es dann nicht sogar geboten, zu lügen?
Schindler spricht nicht von einem Laster, einer schlechten Eigenschaft, sondern von einer wichtigen Fähigkeit des Menschen. Das führt bis zu der Idee, die die Philosophin Svantje Guinebert von der Uni Leipzig erklärt: Die gute Lüge zur Pflicht zu machen: "Können wir nicht sagen, es gibt Situationen, in denen die Konsequenz der Lüge so viel besser dem Glück, dem Wohlergehen aller so viel zuträglicher ist, als die Wahrheit zu sagen. Wäre es dann nicht sogar geboten, zu lügen?"
Die ausgesprochene Wahrheit muss nicht sinnvoll sein
Um das nochmal zu betonen: Wir reden hier nicht von den bösen Lügen, die Menschen und ganze Gesellschaften ins Unglück stürzen können. Wir reden von den weißen Lügen – von Lügen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle spielen. Simon Schindler: "Die ausgesprochene Wahrheit muss gar nicht sinnvoll sein. Weil die Gedanken, die dahinterstecken, totaler Quark sind. Weil wir am Tag so viel Scheiße denken, so unter dem Motto von Kurt Krömers Buch: Man soll nicht alles glauben, was man denkt."
Man soll nicht alles glauben, was man denkt.
Also einfach mal den Mund halten oder sozial lügen – und dann klappt's auch mit dem Partner, der Nachbarin, den Arbeitskolleginnen und -kollegen, im Sportverein, mit dem Weihnachtsfest und überhaupt. "Aber ich glaube, Menschen wollen auch schon belogen werden. Menschen haben ein ganz starkes Bedürfnis nach Selbstwert und der Selbstwert speist sich auch aus Informationen, die nicht absolut der Wahrheit entsprechen müssen." Simon Schindler spricht von positiven Illusionen. "Wenn ich glaube, die meisten Personen mögen mich und ich glaube, ich bin auch einigermaßen intelligent, dann gehe ich ganz gesund durchs Leben. Why not?"
Na dann: Zum Es-sich-zu-Weihnachten-schön-machen gehört also, sich ein bisschen anzulügen. Wichtig ist, dass die Lüge das Fest und die Welt glücklicher macht. Aber nicht übertreiben. Sonst fällt's auf – und außerdem macht die Dosis das Gift.
MDR WISSEN/km
Dieses Thema im Programm: MDR | Die großen Fragen in 10 Minuten | 25. Dezember 2024 | 12:00 Uhr
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