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Corona Haben wir soziales Long Covid? Warum die Wunden der Pandemie noch schmerzen

13. März 2025, 09:04 Uhr

Waren alle Maßnahmen gegen Corona notwendig und wirksam? Warum haben sie die Menschen so unterschiedlich getroffen? Die Pandemie ist auch zwei Jahre nach ihrem Ende emotional noch nicht verarbeitet, sagen Sozialforscher.

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Die Coronapandemie war für die Gesellschaft als Ganzes das wohl einschneidendste Erlebnis in Deutschland seit 1989/90. Nie zuvor in den 30 Jahren seit dem Mauerfall hat sich der kollektive Alltag so abrupt verändert, wie durch Corona. Plötzlich sollte man sich isolieren, wurden Schulen geschlossen, Angestellte ins Homeoffice geschickt und Pflegeheime weitgehend abgeriegelt.

Eigentlich wenig verwunderlich, dass viele Menschen auch zwei Jahre nach dem Ende aller Maßnahmen noch Gesprächsbedarf haben.

Pandemie hat bestehende Ungleichheiten überdeutlich gemacht

"Wir haben häufig den Eindruck, dass der Gesprächsbedarf zur Pandemie immer noch sehr, sehr groß ist. Wir haben nie Schwierigkeiten, Leute dazu zu animieren, über die Pandemie-Zeit zu sprechen und zu reflektieren", sagt Berthold Vogel. Der Soziologe von der Universität Göttingen hat mit seinen Kollegen während und nach der Pandemie die Situation in Organisationen wie Unternehmen, Behörden und Schulen untersucht.

"Die Pandemie war so etwas wie ein Brennglas", sagt er. "Sie hat deutlich gemacht, wie ungleich Arbeitssituationen und Anforderungen sind, die an die Arbeitskräfte gestellt werden. Die Diskussionen, die wir während der Pandemiejahre geführt haben, wirken mitunter bis heute fort. Konflikte von damals schmiert man sich oft noch heute wechselseitig aufs Brot."

Zu den offenen Streitfragen gehört: Wer darf einen Teil seiner Arbeitszeit im Homeoffice bleiben und wer muss jeden Tag im Betrieb erscheinen? Wer ist vor Ort, wenn der Notfall eintritt? Und wird dieser Einsatz auch finanziell entsprechend gewürdigt? Weil der Streit oftmals andauert, konstatiert Soziologe Berthold Vogel: "Es gibt nicht nur ein medizinisches Long Covid. Wir sehen auch so etwas wie ein soziales Long Covid."

Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Corona hat schwere Schäden angerichtet

Das beeinflusst nicht nur das Klima in vielen Betrieben. Es prägt auch die Gesellschaft als Ganzes, sagt Kai Unzicker. Der Sozialforscher untersucht für die Bertelsmann Stiftung, wie es um den sozialen Zusammenhalt bestellt ist. Seit über 30 Jahren werden dafür regelmäßig Menschen befragt. Viele Jahre veränderten sich die Antworten kaum, bis Corona kam. Zu Beginn, im Frühling 2020, hatten Pandemie und Maßnahmen erst einmal einen positiven Effekt: "Die Leute empfanden die Gesellschaft als sehr solidarisch. Sie haben ein großes Vertrauen in die Politik entwickelt, hatten das Gefühl, dichter zusammengerückt zu sein."

Doch das änderte sich mit dem Herbst und Winter, als die zuvor gelockerten Regeln erneut verschärft und schließlich der zweite Lockdown angeordnet wurde. "Ab da sehen wir plötzlich einen deutlichen Abfall bei den Werten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nicht nur fallen die Zuwächse aus dem Jahr 2020 weg. Sondern wir sehen plötzlich einen dramatischen Rückgang, vor allem im Vergleich zu den 20, 30 Jahren zuvor."

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Beziehungsverlust: Kontaktverbote haben zu zahlreichen Kontaktabbrüchen geführt

Fast sechs Monate dauerte dieser zweite Lockdown. Von Dezember bis Mai waren zahlreiche Einrichtungen geschlossen, galten strenge Kontakt- und Abstandsregeln, war Einkaufen in vielen Geschäften nur mit vorheriger Anmeldung und mit Masken möglich. Die Geschwindigkeit neuer Ansteckungen konnte so zwar verringert werden. Aber die Maßnahme richtete auch bleibende Schäden an: "Das hat natürlich soziale Kontakte ganz elementar gekappt. In dem Moment, wo ich Menschen sage: Ihr könnt nicht mehr rausgehen, ihr könnt an bestimmten gesellschaftlichen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen, ihr könnt zu eurer Vereinsversammlung nicht mehr gehen, dann verlieren die Leute wirklich Kontakt und sind dann auf sich allein gestellt. Sie sind dann vielleicht einsam, sitzen zu Hause. Und wir wissen: Wenn Menschen einsam und orientierungslos zu Hause sitzen, dann ist das ein Einfallstor für Radikalisierung und Verschwörungstheorien, weil die Menschen dann eben woanders nach Orientierung und Halt suchen."

Diese Wunden sind bis heute nicht verheilt, stellen Kai Unzicker und seine Kollegen bei ihren Umfragen fest. "Alle Werte sind zurückgegangen: Die Leute haben deutlich kleinere Freundesnetzwerke. Sie geben an, dass sie weniger offen für Vielfalt sind. Sie empfinden die Gesellschaft als weniger gerecht. Sie haben heute ein deutlich geringeres Vertrauen in die politischen Institutionen als vorher. Ihr ehrenamtliches Engagement hat nachgelassen, viele Leute haben sich aus Mitgliedschaften zurückgezogen. In all diesen Dimensionen hat die Coronapandemie Schaden angerichtet."

Schuldige zu finden und anzuklagen: keine gerechte Lösung

Waren die Maßnahmen deshalb falsch? Hätten Schulen, Einrichtungen und andere Begegnungsorte durchgängig geöffnet bleiben müssen, hätte man die Ausbreitung des Virus einfach hinnehmen müssen? Oder würde die Gesellschaft heute dann über sehr viel mehr Tote klagen? Und würden die Menschen dann eine Aufarbeitung fordern, warum nicht mehr gegen Corona unternommen wurde?

Diese Fragen lassen sich nicht seriös mit Ja oder Nein beantworten. Es fehlt die Vergleichsgruppe. In fast allen Gesellschaften galten mal mehr und mal weniger strenge Regeln. Wo sie lockerer waren, etwa in Schweden, hielten sich die Menschen freiwillig an viele Abstandsgebote. Die große Schwierigkeit mit Corona ist deshalb wahrscheinlich, dass die Pandemie so ambivalent ist, dass auf eine Art und Weise beide Positionen stimmen. Die Maßnahmen haben sehr sicher viele Leben gerettet. Aber sie haben die Menschen auch tief verletzt und traumatisiert. Und auf Verletzung und Trauma sind Wut, Angst und Ekel natürliche und gesunde Reaktionen. Ganz gleich ob es bessere Alternativen gegeben hätte oder nicht.

Alternative: Schmerz in Gesprächen zulassen

Nachvollziehbar ist deshalb auch, warum viele nach einem Schuldigen suchen, sich Bestrafung und Aburteilung wünschen. Doch das kann auch keinen Frieden bringen, denn eindeutig Schuldige zu finden, ist aus den genannten Gründen praktisch unmöglich.

Doch es gibt eine andere Möglichkeit: Das Gefühl zulassen und darüber sprechen. Das ist zumindest die Erfahrung von Berthold Vogel und seinen Kollegen, wenn sie Menschen zu ihrem Erleben der Pandemie befragen. "Man merkt oft: Man öffnet Schleusen, hinter denen sich während der Pandemie das Wasser gestaut hat. Ich habe niemanden getroffen, der abgewunken und gesagt hat: Die Pandemie, das ist doch komplett Vergangenheit, das beschäftigt mich nicht mehr."

Vogel ist zwar kein Psychotherapeut. Trotzdem hat er den Eindruck, es geht seinen Interviewpartnern besser nach dem Gespräch. "Es gibt schon häufig die Bemerkung am Ende: Das hat gutgetan, dass wir gesprochen haben. Diese Forschung ist wertvoll."

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 11. März 2025 | 16:10 Uhr

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