Hass und Verbrechen Extremismus: Wie Rechte die Psychologie ausnutzen
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23. Juli 2024, 11:19 Uhr
Rechtsextremisten werten Gruppen ab, die sie als Opfer betrachten – obwohl diese Menschen in den meisten Fällen nichts getan haben. Welcher psychologische Mechanismus steht dahinter und wie kann er aufgehalten werden?
Die politische Ideologie des Rechtsextremismus zeichnet aus, dass sie Menschen den gleichen Wert und die gleichen Rechte abspricht. Stattdessen werden diejenigen, die zur eigenen Gruppe, zum eigenen Volk, zur eigenen Nation gezählt werden, aufgewertet, während diejenigen extrem abgewertet werden, die als Andere ausgemacht werden: Ausländer, Abweichler, Außenseiter. Die Sozialwissenschaft spricht daher von "Ideologien der Ungleichwertigkeit", die häufig im Phänomen der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" münden.
Um feindselige Handlungen gegen Menschen zu rechtfertigen, die als Andere markiert werden, unterstellen Rechtsextremisten ihren Opfern häufig schlechte Absichten und Untaten, die diese meist nie hatten oder nie begangen haben. Aber: Sachliche Aufklärung über falsche Annahmen und Richtigstellung der Fakten führen nur in den seltensten Fällen dazu, dass ein Rechtsextremist die eigenen Annahmen infrage stellt. Egal, ob es Migranten sind, die seltener kriminell handeln, als gemeinhin angenommen wird, oder eine angebliche jüdische Weltverschwörung, die sich leicht als pure Erfindung entlarven lässt: Praktisch sind nie die echten Eigenschaften oder Taten einer Gruppe der Grund dafür, dass sie verfolgt wird. Sondern: Rechtsextremisten scheinen eigene, innere Motive zu haben, die den Ausschlag für ihre Feindseligkeit gegen ein willkürlich gewähltes Opfer geben. Gerade Gruppen, zu denen kein Kontakt besteht, eignen sich gut als Projektionsfläche. Daher scheint die Fremdenfeindlichkeit dort am größten, wo es am wenigsten Fremde gibt.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) macht deshalb in einer Stellungnahme darauf aufmerksam, dass Rechtsextremismus nicht nur ein Thema für die Politik und für die Sozialforschung ist. Sondern dass auch die Psychologie dazu beitragen kann, die eigentlichen Motive und Mechanismen zu entschlüsseln, die oft hinter rechtsextremistischer Gewalt stehen. MDR Wissen hat darüber mit Christine Bauriedl-Schmidt gesprochen, die Stellvertretende Vorsitzende der DGPT ist und als niedergelassene Psychoanalytikerin in München praktiziert.
Warum sind Rechtspopulismus und autoritäre Politikangebote ein Thema für die DGPT?
Wir sind der festen Überzeugung, dass Psychotherapie, wenn sie heilen und helfen soll, dies nur in einem demokratischen System kann. Das hat etwas damit zu tun, dass die Psychotherapie der Wahrheit verpflichtet ist, wie Freud es ausdrückte, der Wahrheit über sich selbst, ob sie schön oder hässlich ist. Dazu braucht es einen Rahmen, der in einer Diktatur so nicht herstellbar ist. Psychotherapie muss für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Hautfarbe, zu einer geschlechtlichen Orientierung, zu religiöser Orientierung. Wir sind ausgebildet, unseren Patienten und Patientinnen vorbehaltlos zu begegnen und ihre Anliegen ernst zu nehmen. Das gilt auch für Menschen, die vielleicht selbst einer Partei wie der AfD anhängen. Gelingt die Therapie, können sich extreme politische Einstellungen auch verändern.
Wenn Sie als Psychoanalytikerin auf ein gesellschaftliches Problem wie den Rechtsextremismus blicken, wie gehen Sie dann vor? Schauen Sie, was in einem Patienten vorgeht, der feindselig wird gegen andere Menschen, und übertragen Sie das dann auf die größere Gesellschaft?
So kann man als Psychoanalytiker vorgehen, aber das kommt an Grenzen. Menschen formen Gruppen, in denen der einzelne aufgeht und die Gruppe benimmt sich dann selbst, als wäre sie ein Individuum. Die Prozesse in Gesellschaftssystemen sind andere, als die in einem Individuum. Es gibt Parallelen und manchmal finde ich das hilfreich, danach zu suchen. Aber beim Rechtspopulismus muss man einfach berücksichtigen, dass dahinter auch politische Machtinteressen stehen. Da wird mit ideologischen Schablonen Propaganda gemacht, die massenpsychologische Effekte nutzt, um Mehrheiten zu generieren und Menschen dazu zu bringen, diese Propaganda weiterzuverbreiten. Rechtspopulisten nutzen Psychologie und psychodynamische Prozesse, um sich Vorteile zu verschaffen. Das kriegt man mit Fokus auf die Individualpsyche nicht in den Blick.
Einer dieser psychodynamischen Prozesse ist, dass Menschen äußerst unangenehme Gefühle von sich abspalten und auf andere Menschen projizieren. Sie schreiben in Ihrer Stellungnahme, dass wir alle immer das Potenzial in uns tragen, Dinge abzuspalten. Warum tun wir das und wie kommt es dazu?
Spaltungen sind nicht per se negativ. Spaltungen erleichtern den Alltag und sind für ihn konstitutiv. Wenn ich etwas suche, womit ich meinen Bleistift schärfen kann, dann muss ich nicht meinen ganzen Hausstand durchmustern, um einen Gegenstand zu finden, mit dem ich das machen kann, sondern die Funktion des Bleistiftspitzens ist eindeutig dem Bleistiftspitzer zugeordnet. Dieser Vorteil ist aber damit erkauft, dass ich sicher nicht auf die Idee kommen kann, mit dem Bleistiftspitzer ein zu kurzes Tischbein abzustützen.
Also, ohne Spaltung geht es nicht, die Frage nach gut oder böse, Freund oder Feind ist ganz basal, entscheidet in der Natur über Fressen und Gefressen-werden. Dass Gut und Böse in der gleichen Gestalt auftauchen können, muss man erst auf komplizierte von Ihnen beschriebene Weise lernen. Aber was problematisch ist, ist der übermäßige Gebrauch dieses Mechanismus bei bestimmten Krankheitsbildern und die Rigidität der Spaltungsvorgänge.
In der Psychoanalyse gehen wir davon aus, dass wir Menschen verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen und dass mit diesen Phasen bestimmte unbewusste Fantasien zusammenhängen und auch jeweils unterschiedliche Fähigkeiten zu Abwehr, Emotionsregulation und zu Integration. Damit wiederum sind bestimmte Ängste verbunden.
Ganz zu Beginn unseres Lebens befinden wir uns in einer symbiotischen Beziehung und erleben noch wenig Unterschied zwischen dem Ich und dem anderen. Nach einigen Monaten und durch viele Interaktionen mit einem Bezugsobjekt werden diese Erfahrungen getönt, und das Objekt – genauer gesagt sind es zunächst nur Teile des Objekts, zum Beispiel die Brust der Mutter – wird eher positiv oder eher negativ wahrgenommen. Hier sehen wir schon die Spaltung in Gut und Böse als erste, sehr basale Fähigkeit des Säuglings. Er kann eine Neugier auf Fremde entwickeln, wenn eine positive Tönung seiner Welt vorherrscht oder eine Fremdenangst, wenn die Welt eher negativ getönt ist. Mit dieser Angst können dann auch schreckliche Fantasien verbunden sein, verfolgt zu werden, letztlich auch Todesangst. Unsere Theorie geht davon aus, dass es sich in dieser Stufe noch um rohe Emotionen handelt oder um Gefühle, die noch nicht verstanden und integriert werden können. Sie brauchen ein Gegenüber, das dem Baby spiegelt und es mit seinen Gefühlen und deren Differenzierungen bekannt macht. Aber erst einmal spaltet das Baby nur in Gut und Böse.
Sind es solche Urängste, die, wenn sie nicht verarbeitet und als eigene Gefühle angenommen werden, in eine Projektion nach außen münden: Dass andere für die eigenen Ängste und Aggressionen verantwortlich gemacht werden?
Sie sprechen den Projektionsmechanismus an. Wenn Sie danach fragen, ob es solche frühen Kindheitsentwicklungen sind, die später in Rechtsextremismus münden, dann wäre ich sehr vorsichtig. So einfach ist das nicht! Klar, in manchen Biografien findet man tatsächlich Traumatisierungen. Da kann man überlegen, was das dazu beiträgt, dass diese Menschen dann solche Gewalttaten zulassen und repräsentieren.
Was genau sind Projektionen eigentlich?
Im Grunde sind das Fantasien, die man hat und die man jemand anderem unterschiebt. Zum Beispiel kann man schlechte Gefühle von sich abspalten und auf andere projizieren, vor allem auf Fremde, auf Menschen, die außerhalb der eigenen Gruppe stehen. Das sind dann die Feinde, auf die man schimpft. Dabei kann man sich selbst mächtig und wirksam fühlen. Man muss sich auch nicht damit beschäftigen, dass man diese negativen Anteile vielleicht selbst in sich trägt. Damit wird ein innerer Konflikt mit diesen negativen Anteilen vermeintlich gelöst. Dafür entsteht dann der Konflikt mit einem Außen, besonders, wenn sich eine ganze Gruppe, ein Kollektiv dazu entscheidet, eigene negative Anteile auf fremde Gruppen oder – beispielsweise im Fall von Mobbing – auf Einzelne zu projizieren. Und diese Konflikte sind dann oft nur sehr schwer lösbar, weil sich Menschen schämen, wenn sie sich diesen massenpsychologischen Effekt bewusst machen müssen.
Aber ein innerer Konflikt, der durch eine Projektion ins Außen verlagert wird, ist der überhaupt lösbar? Selbst wenn die Gruppe vernichtet wird, auf die projiziert wird, dann bleibt der innere Konflikt doch.
Der innere Konflikt kann so nicht gelöst werden. Dieser kann nur in der Begegnung mit dem anderen gelöst werden. Durch die Rückverlagerung nach innen, um ihn dort zu bearbeiten.
Werden Projektionen dann zu Ressentiments, also zu Gefühlen, die ständig wiederholt werden müssen und die nicht gelöst werden können?
Nicht unbedingt. Denn es gibt ja vorübergehende Projektionen, zum Beispiel Verliebtheit. Oder: Es begegnet mir jemand, der erinnert mich an jemanden, und ich projiziere sofort etwas Positives oder etwa Negatives auf den. Aber dann spricht man mit der Person und die Projektion verschwindet, genau wie das Bedürfnis, sie zu "füttern". Man könnte es so sagen: Wenn eine negative Projektion ständig wiederholt wird, wenn sie eine Funktion hat und von einem Kollektiv getragen und aufgeladen wird, wenn sie eine Pathologie stützt, dann könnte sie zu einem Ressentiment werden.
Haben solche geteilten Projektionen auch die Funktion, eine Gruppe herzustellen, die im Kampf gegen das Außen vereint ist und deren Mitglieder dann einander als geeinte und gleiche erscheinen? Vermittelt das dem Einzelnen Sicherheit?
Das freie Denken ist ein Prinzip, dass auch auf das Denken in Gruppen angewendet werden kann. Unter bestimmten Voraussetzungen wird eine Gruppe nicht mehr vernunftverankert denken, dann, wenn sie bestimmten Grundannahmen folgt, beispielsweise, sich durch ein "Außen" bedroht zu fühlen und dann bevorzugt zu Lösungen zu gelangen, die sich Kategorien von Kampf oder Flucht zuordnen lassen.
Auch den Begriff der Sicherheit würde ich hier bestätigen. Aber aus meiner Sicht spielen auch Gefühle der Scham eine große Rolle. Wenn man sich anschaut, wo die AfD sehr stark gewählt wurde, dann kann man die Vermutung entwickeln, dass besonders solche Personengruppen rechtsextrem gewählt haben, die sich abgehängt und auch bedeutungslos fühlen. Und die über dieses Abgehängtsein beschämt sind. Und das kann natürlich von rechtspopulistischen Führern ausgenutzt werden, um eine vermeintliche Sicherheit herzustellen und Angst und Scham zu reduzieren. Ich denke, da gibt es eine Sehnsucht nach so etwas wie einer Art väterlichem Schutz. Dass Menschen glauben: Wir werden beschützt, wir haben eine Macht und wir stellen etwas dar.
Aber warum tritt dieses Bedürfnis genau heute zutage? Schließlich haben sich die Lebensverhältnisse in den vergangenen Jahren für viele Menschen auch in sogenannten abgehängten Gegenden oft stark verbessert.
Hier möchte ich auf das Konzept der Unfähigkeit zu Trauer eingehen. Das Ehepaar Mitscherlich hat nach dem Zweiten Weltkrieg das psychoanalytische Konzept der Unfähigkeit zu Trauer in den Diskurs gebracht. Damit meinten sie, dass viele Deutsche, die Zerstörung, an der sie beteiligt waren, die sie erlebt, angerichtet, zu verantworten haben, nicht betrauern konnten. Stattdessen haben sie einfach weitergemacht, sich auf den Wiederaufbau konzentriert. Die Ansätze zur Aufarbeitung waren eher oberflächlich.
So können wir auch über einen unbetrauerten Fall der Mauer nachdenken. Die Mauer hat die Welt strukturiert in Gut und Böse geteilt – jeweils aus Sicht des anderen. Sie war natürlich auch tödlich. Die Existenz der Mauer hat entsprechende individuelle Fantasien in Schach gehalten, diesen einen geografischen Ort gegeben, ein Gegenüber verschafft. Unter dem Schutz der physischen Präsenz einer Mauer konnte das Bedrohliche auf dieses Gegenüber projiziert werden. Was ich damit sagen möchte: Die nun zu Tage tretende politische Differenz zwischen Ost und West kann als nachträgliches Wiedereinziehen einer ideologischen Grenze verstanden werden.
Die Wut auf den dominanten und ehemals von vielen als begehrlich erlebten Westen hat sich auf die Migrantinnen verschoben, die nun bekämpft werden. Dahinter steht die Hilflosigkeit von Menschen, in deren Familien- und Gesellschaftshistorie das Erleben von zwei Diktaturen steht. Diese Erfahrungen sind nicht bearbeitet, oder anders: nicht betrauert und integriert worden.
Die Hoffnungen vieler Menschen wurden nach dem Mauerfall enttäuscht, vor allem bei denen, die große Hoffnungen in die Vereinigung mit dem Westen gesetzt haben. Dass Institutionen wie Kinderkrippen verloren gingen, die wir heute vielleicht teilweise kritisch sehen, die aber auch ein Gefühl von Heimat, Selbstverständlichkeit, Normalität vermittelt haben. Dass Eltern ihre Arbeit verloren, dass Menschen dorthin abwanderten, wo es Arbeitsplätze gibt. Das Gefühl, sich abgehängt zu fühlen, entsteht oft auch nachträglich und wird auch über die Generationen weitergegeben. Und diese unbetrauerten Erfahrungen treffen jetzt auf Terror, Klimakrise, Globalisierung und Digitalisierung, die Verstörung und Angst erzeugen können. Und das mündet in der Suche nach einfachen Abwehrstrategien und dem Ruf nach einer starken Führung.
Warum profitieren davon Politiker, die teilweise offen kriminell und korrupt sind? Warum schließen sich Menschen Führern an, die es mit Recht und Gesetz offenbar nicht ganz genau nehmen? Symbolisiert das in den Augen der Unterstützer Stärke?
Ich kann mir vorstellen, dass das sehr dazu beiträgt, Stärke zu symbolisieren. In Freuds Werk "Massenpsychologie und Ich-Analyse" beschreibt er, wie die Stelle des eigenen Ich-Ideals von der Figur des Führers besetzt wird, mit der man sich dann identifizieren kann. Das kann psychisch entlasten, zugleich fällt man aber auch zurück, das heißt, es findet eine Regression statt: Die Fähigkeit zum Gewissen, die von Freud sogenannte Über-Ich Funktion, wird eingeschränkt. Auch das Urteilsvermögen erodiert und man gesteht sich selbst zu, was man einer anderen Gruppe vorwerfen würde. Das kann so weit gehen, dass Menschen Fantasien von Omnipotenz entwickeln und die Verhältnisse pervertieren. Sie sprechen dann anderen Menschen die gleichen Rechte ab, entziehen ihnen die Empathie und können sie auch quälen und bestehlen, ohne Scham zu empfinden. Auf diese Weise verlieren sie ihre eigene Menschlichkeit. Vielleicht können wir sagen, dass mit der Hasspolitik der Versuch unternommen wird, ein väterliches Prinzip des Schutzes, der Potenz, der Autorität zu re-etablieren, dort, wo es verloren zu sein scheint. Doch in seiner pervertierten Form handelt es sich dann um den Vater als einen Kriminellen, mit dessen Hilfe die eigene kriminelle Ader salonfähig gemacht werden kann.
Was hat eine Person davon, wenn sie das tut?
Sie fühlt sich stark, omnipotent, vielleicht gewinnt sie große Lust. Unter Umständen glaubt sie auch, einer Mission zu folgen. Die Untersuchungen von Nazi-Verbrechern haben gezeigt, dass diese nicht wahnhaft oder verrückt waren. Sondern eher "auffallend normal". Nehmen Sie das Beispiel von Robert J. Lifton, einem amerikanischen Psychiater und Psychoanalytiker, der hochrangige Nazi-Ärzte im Nachkriegsdeutschland untersuchte. Unter diesen fand er dissoziative Phänomene vor, das heißt, diese konnten einerseits zu Hause sehr liebevoll gewesen sein, äußerst angepasst, nette und freundliche Väter und Ehemänner. Zugleich haben sie Gräueltaten begangen, befürwortet, unterstützt oder geplant. Das wurde aber abgetrennt, dissoziiert von der übrigen Persönlichkeit, die sich der Familie und den engsten Angehörigen gezeigt hat. Sie hatten einen Lustgewinn durch die Macht, haben das aber abgespalten.
Welchen Schaden tragen die Täter davon?
Sie opfern ihr Gewissen und damit ganz wesentliche Aspekte ihres Menschseins. Aber das wird ihnen oft nicht oder erst im Nachhinein bewusst. Im schlimmsten Fall müssen sehr viele Menschen, auch die der eigenen Gruppe darunter leiden. Denn wenn Antidemokratie und Ressentiments eine Übermacht gewinnen, können daraus Kriege entstehen.
Wie kann man Menschen dann motivieren, sich bewusst zu werden, was sie mit Projektion und Ressentiment anrichten? Können Sie dazu gebracht werden, Vorurteile und Aggressionen gegen ihre Opfer aufzugeben?
Das ist die wesentliche Frage, mit der sich auch die Psychoanalyse sehr beschäftigt, und die wir wahrscheinlich nicht umfassend und befriedigend beantworten können. Zunächst ist es sinnvoll, zu schauen, um welche Gruppierungen handelt es sich? Es ist keine homogene Gruppe von Menschen, die so handelt. Denken wir beispielsweise an Jugendliche, die sich einer radikalen Gruppierung anschließen, dann kann es sein, dass sie in ihrer weiteren Entwicklung wieder herauswachsen. Dass sie merken, dass sie sich mit Vorurteilen und Projektionen selbst im Weg stehen. Vielleicht gehen sie in andere Länder und lernen dort, dass sie einer eingeschränkten Denkweise nicht weiterkommen. Solche Möglichkeiten der Begegnung mit den Fremden können einen Einfluss haben. Aber vielleicht auch positive Werte, die ihnen während der Schule begegnet sind. Allerdings: Wenn die Familie als primäre Stätte der Sozialisation selbst Ressentiments vertritt, vielleicht auch Rassismus akzeptiert, dann kann es bereits schwieriger werden, diese in Frage zu stellen – insbesondere dann, wenn das weitere soziale Umfeld diese auch bestätigt.
Eine weitere Gruppe wären schweigende Zuschauer, die solche Hasstaten einfach nur wahrnehmen. Da denke ich an eine Untersuchung zu den NSU-Morden. Zum sogenannten NSU-Komplex gehörte neben den Taten der Neonazis auch, dass ihr Handeln über viele Jahre unentdeckt blieb, (was mit Verstrickungen der Behörden in ihre eigenen Vorurteile bezüglich der mutmaßlichen Tätergruppe zu tun hatte). Doch die These eines Trios umfasst die Vorstellung von drei Tätern und isolierten Taten. Die Mitwissenden, Unterstützenden, Gewährenden, die diese Taten auch erst möglich machten beziehungsweise diese bagatellisierten, werden damit nicht genannt.
Diese Vorstellung irritiert und wir können überlegen, welche unbewussten Motive auch in den Zuschauern wirkten, beispielsweise in denjenigen, die wussten, dass sich in ihrer Kneipe Faschisten trafen. Die dieses schweigend und tatenlos zuließen. Solche schweigenden Zuschauer erschrecken manchmal, wenn sie sich im Nachhinein bewusst machen, was passiert ist. Dann sind sie mitunter zu einem Umdenken bereit. Sie könnten beispielsweise über Gruppenangebote erreicht werden und können auch lernen, an welchen Stellen sie Zivilcourage zeigen können.
Drittens gibt es da noch die Täter selbst. Gegen sie muss kriminalpolizeilich ermittelt werden, was ja auch geschieht. Da muss gezeigt werden, dass es sich um Verbrechen handelt, die da geschehen. Das ist ein wichtiges Signal.
Was kann die Gesellschaft noch tun?
Begegnungsorte sind essenziell, Sozialisierungsinstitutionen wie Schule und Jugendzentren, aber auch Sportvereine oder Volkshochschulen. Dort können gemeinsame Erfahrungen gemacht werden, Begegnungen miteinander stattfinden. Das kann sehr wirkungsvoll sein, beispielsweise miteinander zu kochen, zu reden, zu feiern. Nur dort, wo sich Menschen treffen, können solche Konflikte angesprochen werden. Ressentiments, Spaltungsprozesse, Gefühle von Fremdenfeindlichkeit sind in uns allen. Sich dieses einzugestehen, kann sehr unangenehm, beschämend sein. Aber da müssen Menschen auch die Erfahrung machen können: Es passiert nichts Schlimmes, wenn man das bemerkt und darüber spricht. Dann können wir in Dialog darüber geraten und uns vielleicht hinterher gegenseitig aufziehen mit den anfangs vorhandenen Ressentiments, die vielleicht wechselseitig vorhanden waren. Für diese Gespräche zwischen Gruppen, die einander potenziell mit Vorbehalten gegenüberstehen, gibt es spezielle psychodynamisch angeleitete Großgruppenformate. In diesen Gruppen können die Menschen über ihre Vorbehalte miteinander sprechen und es gibt die Chance, diese produktiv aufzulösen. Die Basis des gruppenanalytischen Denkens: Die Bearbeitung der eigenen Fantasien über die oder den Anderen, setzen dessen oder deren Anwesenheit voraus.
Müssen sich dabei diejenigen, die Ressentiments haben und diejenigen, die Opfer davon sind, begegnen?
Wirkungsvoll sind Großgruppenprozesse, in denen sich die Konfliktgruppierungen begegnen. Ich denke an die bekannten Nazareth-Konferenzen, die 1994 durch das Psychoanalytiker-Ehepaar Moses ins Leben gerufen wurden. Nazareth-Konferenzen folgen einem Großgruppenformat zur Lösung von Konflikten, die sich zwischen nationalen Gruppen entwickelt haben. Im Schutz dieses Settings trafen sich 1994 erstmals jüdische und nicht-jüdische Deutsche und Israelis, um ihre wechselseitigen, in der Vergangenheit verankerten und oft unbewussten Ressentiments ans Licht zu holen und gemeinsam zu betrachten. Das gleiche Format wurde dann auf Großgruppen zwischen Israelis und Palästinensern angewendet. Im Herbst beispielsweise wird eines zur Klimakrise stattfinden, in der sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedener geografischer Regionen und unterschiedlicher Generationen treffen.
Wenn Menschen nicht bereit sind, ihre Ressentiments und Projektionen zu bearbeiten, wenn sie stattdessen in den – von den vielen Krisen der Gegenwart ausgelösten oder reaktivierten – Ängsten verharren, und sich in Projektion und Freund-Feind-Gruppen-Schemata flüchten, wie zerstörerisch kann das werden?
Wenn Sie an Völkermorde denken: Da kommt es zu unglaublich viel Zerstörung, Zusammenbruch von Empathie und Instabilität. Der Haken ist der: Die Menschen, die andere Menschen töten oder quälen aufgrund deren Volkszugehörigkeit, versuchen sich über das Wir-Gefühl der eigenen Gruppe stärker zu fühlen. Aber dadurch verarmt das "Ich". Die Fähigkeit, über eigenes Denken und eigene Kreativität zu Lösungen zu gelangen, verarmt zugunsten der eigenen, sich destruktiv gebärdenden Gruppe. Denken, Lernen und Anpassungsfähigkeit werden leiden, was es auf lange Sicht wiederum schwieriger macht, mit Krisen umzugehen.
Wenn Menschen ihre Empathie gegen die anderen abbauen, wenn sie zu Tätern werden, leiden sie darunter später auch selbst?
Vorhin habe ich von den Untersuchungen an hochrangigen Nazis oder Nazi-Ärzten gesprochen. Viele von diesen haben ihre Taten nicht bereut. Der Soziologe Harald Welzer sieht den wesentlichen Grund darin, dass Täterinnen und Täter nicht an ihrem eigenen Tun zerbrachen, dass sie sich als Opfer einer Aufgabe, einer Mission verstehen konnten, die ihnen durch die Umstände, beispielsweise die historische Situation, auferlegt wurden. Dann wird das Töten als eine Pflicht für das übergeordnete Wohl der Volksgemeinschaft verstanden. Das bedeutet nicht, dass Täterinnen und Täter nicht leiden können, beispielsweise unter einem Erleben von Leere, Isolation. Doch von anderen – zivilen – Gewalttaten wie beispielsweise Kindesmissbrauch wissen wir, dass sie durchaus vordringlich daran leiden können, von anderen vermeintlich missverstanden zu werden. Häufig ist es dann das Narrativ des Täters, der Täterin, das Gehör findet, nicht das Narrativ der Opfer.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 20. Juli 2024 | 06:10 Uhr