Zivilcourage: Eine Frage der Persönlichkeit? Wann Menschen Zivilcourage zeigen
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21. Februar 2025, 11:59 Uhr
Neigen wir dazu, untätig zu bleiben, wenn wir Unrecht gegenüber anderen Menschen beobachten? Was lässt Menschen eingreifen? Aktuelle Studien der Sozialpsychologie zeichnen ein differenziertes Bild der Zivilcourage.
Der Bystander-Effekt: Das geht mich nichts an!
Bleiben Menschen untätig, wenn im öffentlichen Raum Unrecht geschieht? Wenn zum Beispiel eine Person vor den Augen anderer angepöbelt, beleidigt oder sogar angegriffen wird? Neigen Menschen dazu, in solchen Situationen daneben zu stehen, also lediglich 'Bystander' zu sein? Von dieser vermeintlichen Tatsache zeugt der so genannte Bystander-Effekt, ein klassisches sozialpsychologisches Erklärmodell.
Er beruht unter anderem auf einer markanten Geschichte aus New York im Jahr 1964: Eine junge Frau namens Kitty Genovese ist auf ihrem Heimweg einer Vergewaltigung mit anschließendem Mord zum Opfer gefallen, unter den Augen vieler Zeugen und obwohl sie laut um Hilfe geschrien haben soll. Der Fall gilt heute als nicht mehr so eindeutig, damals musste er für Sozialpsychologen als Ausweis von menschlichem Egoismus und Gleichgültigkeit herhalten, weil Nachbarn die Tat bemerkt, ihr aber nicht geholfen haben sollen.
Normverletzungen erkennen: gar nicht so einfach
Sozialpsychologin Anna Baumert von der Bergischen Universität Wuppertal erforscht die Zivilcourage und deren Gegenspieler, den Bystander-Effekt intensiv: es sei ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die unmittelbares Handeln erschweren würden, erklärt die Forscherin. Meist seien Situationen im öffentlichen Raum uneindeutig. Wir kämen selten pünktlich zur Szene des Geschehens – sondern oft erst dann, wenn bereits etwas passiert sei.
So würde uns ein volles Verständnis über den Hergang der Situation fehlen. Das führt eher dazu, abwartend und vorsichtig zu sein – freeze statt fight, um es mit den evolutionsbiologischen Grundreaktionen zu beschreiben. Außerdem dauern Situationen, die ein Eingreifen erfordern, oft nicht lange, manchmal viel zu kurz: Hat die Person da gerade wirklich die andere schlimm beschimpft, rassistisch beleidigt und angepöbelt oder habe ich mich verhört?
Warum machen die anderen Umstehenden nichts?
Darüber hinaus können zwei verschiedene psychologische Effekte das Eingreifen verhindern: die pluralistische Ignoranz und die Verantwortungsdiffusion: Wenn andere Umstehende ebenfalls nicht eingreifen – vielleicht weil auch sie zu spät zur Tatstelle gekommen sind und die Situation nicht als Normverletzung einschätzen –, warum sollte ich dann eingreifen? Da richte ich mich lieber nach dem, was die anderen tun: Nichts, und gehe meiner Wege.
Gibt es daneben aber persönliche Eigenschaften, die es befördern oder hindern, ob und wann Menschen eingreifen? Dieser Frage ist Anna Baumert in mehreren Forschungsprojekten nachgegangen. Unter anderem hat sie Studienteilnehmer eine Woche lang Normverletzungen im Alltag dokumentieren lassen und dann Persönlichkeitstests durchgeführt. Ein Ergebnis: Viele Teilnehmer registrieren Regelbrüche und kleine moralische Vergehen gegen andere, sie greifen allerdings nur in rund einem Drittel der beobachteten Fälle ein – ein Argument für den Bystander-Effekt und das Untätigsein.
Wer zur Zivilcourage neigt
Eine der zentralen Erkenntnisse ist die Bedeutung von Wut: Wer auf Normverletzungen im Alltag mit Wut reagiert, der neigt eher dazu, einzugreifen, um Normen und Sitten wiederherzustellen. Wer hingegen große Angst verspürt, der wird eher untätig bleiben.
Aber erst einmal gilt es Normverletzungen als solche überhaupt zu erkennen. Und da kommt die Eigenschaft der "moralischen Aufmerksamkeit" ins Spiel: Gehen Menschen mit einem Sensor für gutes und richtiges Handeln durch die Welt oder ist es ihnen eigentlich relativ egal, was um sie herum passiert? Wer ein Empfinden für Moral im Alltag hat, der wird Normverletzungen eher melden und eher eingreifen.
Selbstwirksamkeit: Ein Schlüssel zum Eingreifen
Außerdem seien Menschen, die sich als selbstwirksam verstehen, eher bereit Zivilcourage zu zeigen: Wer davon überzeugt ist, dass sein Handeln den Unterschied machen und wirksam sein kann, der wird eher bereit sein zu helfen, wenn es zu Normverletzungen kommt. Daneben gelte als so genannte breite Eigenschaft die Extraversion als förderlich für Zivilcourage: Extravertierte Menschen sind im Gegensatz zu introvertierten Personen solche, die gern auf andere Menschen zugehen, aktiv soziale Situationen aufsuchen, selbstbewusst und selbstsicher in sozialen Momenten sind. Auch das hilft, den Bruch von Regeln nicht auf sich sitzen lassen zu wollen.
Sind Menschen ohne diese Eigenschaften dazu verdammt, immer nur Bystander zu bleiben? Anna Baumert formuliert es so: "In all unserer Forschung sehen wir, dass es sowohl systematische Unterschiede gibt zwischen Menschen in ihrer Tendenz, etwas zu tun, aber auch innerhalb von Personen von Situation zu Situation. Deswegen kann man es eigentlich in so einer ganz konkreten Situation nie so richtig gut vorhersagen, wer zivilcouragiert eingreifen wird oder nicht". Ist Zivilcourage trotz der hilfreichen Persönlichkeitsmerkmale also eine Blackbox?
Wird mir geholfen vs. wer hilft eigentlich?
Vielleicht muss man nur die Frage ein wenig drehen und das Dilemma um die Bystander löst sich auf? Diesen Ansatz wählten Forschende mehrerer Universitäten in einer groß angelegten Auswertung von Überwachungskameras an öffentlichen Orten. Die entscheidende Frage, so die Forschenden, sei doch: "Wird mir im Notfall geholfen?".
Um das beantworten zu können, werteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Überwachungs-Material aus Großbritannien, der Niederlande und Südafrika aus: Länder mit unterschiedlichem öffentlichen Sicherheitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen: In 9 von 10 Fällen wird Menschen geholfen.
Mindestens ein Umstehender greift bei einer körperlichen oder verbalen Bedrohung ein, meist sind es sogar mehrere Personen, die helfen. Je mehr Menschen anwesend sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest eine Person hilft. Für Anna Baumert ist diese Studie ein Ausweis, dass sich Umstehende durchaus sehr spontan organisieren und entscheidend helfen können.
Was hilft beim Helfen?
In Deutschland gibt es zahlreiche Angebote, um Zivilcourage zu trainieren. Auch die Polizei gibt Empfehlungen: Zuallererst sollten Helfende sich nicht selbst in Gefahr bringen. Wichtig sei es, andere Umstehende mit an Bord zu holen und sie direkt anzusprechen, um gemeinsam Hilfe zu organisieren. So könne eine Person die Polizei rufen, während die andere Person weitere Umstehende einbezieht. Außerdem sollten Helfende den Fokus auf das Opfer statt auf den Täter legen: Versuchen, das Opfer aus der Situation zu ziehen, statt dem Täter Vorwürfe zu machen und ihn dadurch weiter zu reizen.
Ein entscheidender Baustein für erfolgreiches Eingreifen sei darüber hinaus die eigene Stimme wirksam einzusetzen: Wer laut und deutlich seine Stimme erhebt, kann Täter irritieren und von weiteren Angriffen und Beleidigungen abbringen.
Links/Studien
Baumert, A., Mentrup, F. E., Klümper, L., & Sasse, J. (2024). Personality processes of everyday moral courage. Journal of Personality, 92, 764–783. https://doi.org/10.1111/jopy.12850
Philpot, Richard & Liebst, Lasse & Lindegaard, Marie & Bernasco, Wim & Levine, Mark. (2020). Would I be Helped? Cross-National CCTV Footage Shows That Intervention Is the Norm in Public Conflicts. DOI:10.21428/cb6ab371.0bf5c9b9
Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge | 21. Februar 2025 | 12:00 Uhr
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