TikTok-Challenges Gefährliche Mutproben – warum machen wir sowas?

03. März 2025, 14:08 Uhr

Früher gab es Mutproben auf dem Schulhof, heute hat sich das Geschehen in die digitale Welt verlagert: Bei sogenannten "Challenges" auf Social-Media-Plattformen wie TikTok & Co. geht es darum, sich Herausforderungen zu stellen. Die können harmlos sein und etwa darin bestehen, eine Choreografie nachzutanzen. Sie können aber auch gefährlich werden. Was bewegt Kinder und Jugendliche, für ein kurzes Video und ein paar Likes ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen – oder gar ihr Leben?

Der Junge beißt in einen orangefarbenen Kartoffelchip, seine Freunde um ihn herum johlen, werden dann aber still, beobachten ihn. Er kaut, schluckt, blickt konzentriert geradeaus, als würde er auf etwas warten. Dann gibt er einen gurgelnden Laut von sich, windet sich, sein Gesicht wird rot, sein Mund steht offen, er hat offenbar Schmerzen.

Nur wenige Sekunden ist das Video lang. Es zeigt die sogenannte Hot Chip Challenge: Die Aufgabe ist dabei, einen Kartoffelchip zu essen, der mit Extrakt aus der schärfsten Chilischote der Welt gewürzt ist. Was nach einem abenteuerlichen Party-Gag klingt, kann schnell gefährlich werden: So kam es 2023 zu einem Rettungs-Großeinsatz im nordrhein-westfälischen Euskirchen, nachdem dort mehrere Schüler die Hot Chip Challenge absolviert hatten.

Mutproben, um gemocht zu werden?

"Es ist auf jeden Fall ein Phänomen des Gruppendrucks", diagnostiziert Lara Kobilke. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). "Man möchte den eigenen Peers gefallen, in der eigenen Gruppe Anschluss finden." Das sei ein wesentlicher Grund, warum Kinder und Jugendliche auch gefährliche Challenges mitmachten.

Heißt das, dass besonders Kinder und Jugendliche gefährdet sind, die beispielsweise ein eher niedriges Selbstwertgefühl haben? Die hoffen, über Mutproben beliebter zu werden? Lara Kobilke zögert: "Wir haben die Kinder und Jugendlichen nach bestimmten Persönlichkeits-Eigenschaften gefragt: Ob sie zum Beispiel große Angst haben, keinen Anschluss zu finden. Ob sie sich sozial sehr anerkannt finden in ihrer Klasse. Ob sie Angst haben, tolle Ereignisse zu verpassen." Diese Faktoren seien aber nur erste Hypothesen, derzeit laufe die Auswertung der Daten.

Die meisten Challenge sind harmlos

Gemeinsam mit ihrer Kollegin Antonia Markiewitz hat Lara Kobilke deutschlandweit 755 Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 16 Jahren zum Thema TikTok-Challenges befragt: Was macht es mit euch, wenn ihr in der App immer wieder mit solchen Challenges konfrontiert werdet? Was bewegt euch dazu, euch selbst in solche Challenges zu werfen? Herausgekommen ist die Studie "Challenge accepted: Welche Challenges sich auf TikTok verbreiten und wie Kinder und Jugendliche sie wahrnehmen".

Für ihre Untersuchung haben Kobilke und Markiewitz außerdem über 2.500 TikTok-Videos analysiert und in ein Schema eingeordnet: Wie gefährlich ist die Challenge, die da gezeigt wird? Ergebnis: 70 Prozent der Videos zeigten harmlose oder positive Herausforderungen. In den restlichen Videos waren Challenges mit potenziell negativen Folgen zu sehen.

"Was wir langsam nicht mehr sehen können, ist, wie sich Leute die ganze Zeit erbrechen", erzählt Kobilke. "Da gibt es ein paar Challenges, die testen sollen: Wie taff bist du, kannst du das bei dir behalten, selbst wenn du Dinge zu dir nimmst, die eigentlich einen Brechreiz auslösen." Auch die befragten Kinder und Jugendlichen berichten, dass sie auf der Plattform immer wieder auf Content stoßen, den sie als ekelerregend empfinden. Und ja, auch Erbrechen ist nicht unbedingt gesund – lebensgefährlich aber ist es in der Regel nicht.

Was wir langsam nicht mehr sehen können, ist, wie sich Leute die ganze Zeit erbrechen.

Lara Kobilke, Kommunikationswissenschaftlerin, LMU München

Ein weiteres Beispiel für potenziell schädliche TikTok-Mutproben ist die sogenannte Salt and Ice Challenge: "Da geht es darum, dass man sich Salz auf die Haut macht und dann Eis drauf", erklärt Antonia Markiewitz von der LMU München, die gemeinsam mit Lara Kobilke die TikTok-Studie durchgeführt hat. "Das klingt erstmal ganz harmlos, aber gerade jüngeren Kindern ist oft nicht klar, dass dabei ganz schlimme Verbrennungen entstehen können."

Strangulieren als Challenge

Ein Prozent der rund 2.500 Videos, die Markiewitz und Kobilke ausgewertet haben, zeigten Challenges mit einem möglicherweise tödlichen Risiko. Schlagzeilen machte etwa die sogenannte Blackout Challenge, bei der es darum geht, sich bis zur Bewusstlosigkeit zu strangulieren. In mehreren Ländern kam es dabei bereits zu Todesfällen, im April 2024 auch im nordhessischen Landkreis Kassel.

Solche Mutproben seien grundlegend kein neues Phänomen, so Markiewitz: "Was halt jetzt durch die Social-Media-Plattformen dazu kommt, ist, dass sich die Kinder und Jugendlichen zum Teil dabei filmen und das hochladen und sich das so deutlich weiter verbreiten kann als früher auf dem Schulhof. Also: Das Publikum ist potenziell ein größeres – und damit auch die Nachahmungsgefahr." Der Wunsch, gesehen und bewundert zu werden, ist für viele Menschen nachvollziehbar – aber wie kann er so stark werden, dass man dafür Verletzungen oder sogar den Tod in Kauf nimmt?

Mutproben als Status-Instrument

Thorsten Pachur ist Professor für Methoden der Verhaltensforschung an der Technischen Universität München und forscht unter anderem dazu, warum Menschen welche Entscheidungen treffen. Dabei sei Mut erst einmal durchaus ein positiver Faktor, so Pachur: "Im Endeffekt brauchen wir einen gewissen Mut, um uns voranzubringen und etwas von der Welt zu erleben. Wir wären nicht über die Meere gereist und hätten Amerika entdeckt oder wären zum Mond geflogen, wenn wir als Spezies nicht mutig gewesen wären."

Wir brauchen einen gewissen Mut, um uns voranzubringen, um was von der Welt zu erleben.

Thorsten Pachur, Professor für Methoden der Verhaltensforschung, TU München

Doch gerade bei Jugendlichen verrutsche manchmal der Mut-Maßstab, erklärt Pachur. "Da geht es viel um Status-Ausbildung. Studien zeigen: Jugendliche sind deutlich risikobereiter, wenn sie beobachtet werden. Das Ausmaß an Risikobereitschaft hat eine Signalfunktion an die anderen Peers. Diese Sensitivität für den sozialen Kontext verschwindet im etwas reiferen Erwachsenenalter."

Warum auch Eltern auf TikTok sein sollten

Was muss also passieren, um Kinder und Jugendliche in diesem "anfälligen" Alter zu schützen? Auch damit haben die Medienforscherinnen Lara Kobilke und Antonia Markiewitz sich in ihrer TikTok-Studie beschäftigt. Einer ihrer Befunde: Ein großer Teil der Befragten wünscht sich, mehr mit Eltern und Lehrkräften sprechen zu können über das, was auf Social-Media-Plattformen wie TikTok passiert.

Heißt für Erwachsene: "Zugänglich sein als Ansprechperson und sich auf dem Laufenden halten!", empfiehlt Antonia Markiewitz. "Was für Inhalte werden da geteilt? Wie werden die aufbereitet? Einfach, um ein kompetenter Ansprechpartner oder eine kompetente Ansprechpartnerin für die Kinder zu sein und nicht völlig blank dazustehen. So kann man dann gegebenenfalls auch mal proaktiv Dinge ansprechen: Hey, ich beschäftige mich mit Dingen, die sich in deiner Lebenswelt abspielen, ich bin da für dich und wir können darüber sprechen."

"Um schwimmen zu lernen, muss man schwimmen"

Auch TikTok selbst steuert bereits gegen – natürlich auch, um weiteren negativen Schlagzeilen und Gerichtsprozessen wegen tödlicher Challenges zuvorzukommen. "Bestimmte Challenges, zum Beispiel die Blackout Challenge, kann man in Deutschland gar nicht mehr abrufen – jedenfalls nicht unter den traditionellen Keywords, die damit assoziiert werden. Das Monitoring von TikTok ist da schon sehr intensiv", erklärt Lara Kobilke.

Zudem brauche es aber auch neue und wirksamere Konzepte zur Altersüberprüfung: "Wir haben in unseren Daten festgestellt, dass bereits Zehnjährige TikTok nutzen, dabei dürften sie eigentlich erst ab 13 auf der Plattform unterwegs sein." Von Verboten hingegen hält sie nichts: "Wir müssen Kinder und Jugendliche irgendwie mit diesen Plattformen vertraut machen. Um schwimmen zu lernen, muss man schwimmen."

Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge | 28. Februar 2025 | 12:00 Uhr

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