Pandemie: Modell zur Impfstoffverteilung Corona: Wer bekommt den Impfstoff zuerst?
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04. September 2020, 12:34 Uhr
Das Coronavirus hat die Welt im Griff. Doch wer soll den Impfstoff, wenn er denn fertig entwickelt ist, zuerst bekommen? Wie kann er möglichst effizient und gerecht verteilt werden? Ein globales Forschungsteam lehnt den Plan der Weltgesundheitsorganisation WHO für eine proportionale Verteilung ab. In einem eigenen Drei-Phasen-Entwurf sieht es die Verhinderung von Todesfällen als oberste Priorität und plädiert für eine faire weltweite Verteilung.
Bis Ende August sind weltweit über 850.000 Menschen an den Folgen der Corona-Pandemie gestorben. Ein Ende der weltweiten Infektionen ist noch immer nicht absehbar. Die Welt wartet auf einen Impfstoff oder ein Medikament, um diese Krankheit zu bekämpfen. Eine Impfstoffknappheit gilt als unvermeidlich. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Mediziner und Impfstoffhersteller arbeiten bereits jetzt an Szenarien, wie sie die Impfstoffe verteilen können. Doch wie kann eine faire und gerechte Verteilung aussehen?
Fast 200 Impfstoffe in der Entwicklung
Derzeit sind nach Angaben der WHO fast 200 Impfstoffe in der Entwicklung, nur einige davon befinden sich in klinischen Studien der Phase 3. Noch immer gibt es viele Unbekannte, doch die Frage der Verteilung wird immer dringlicher diskutiert. Neunzehn Gesundheitsexperten aus der ganzen Welt haben nun einen neuen, dreiphasigen Plan für die Verteilung von Impfstoffen vorgeschlagen. Das so genannte "Fair Priority Model" zielt darauf ab, vorzeitige Todesfälle und andere irreversible gesundheitliche Folgen einer Corona-Infektion zu reduzieren. Die Studie unter Leitung des Mediziners und Ethikers Ezekiel J. Emanuel von der University of Pennsylvania ist im Fachmagazin "Sciene" erschienen.
Bislang zwei Hauptvorschläge: "Beide fehlerhaft"
Bislang dominierten in der Diskussion über die Verteilung des Impfstoffs zwei Hauptvorschläge: Einige Experten hatten sich dafür ausgesprochen, dass Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Hochrisikobevölkerungen wie Menschen über 65 Jahre zuerst geimpft werden sollten. Die WHO hingegen hat vorgeschlagen, die Impfdosen an die jeweiligen Länder, proportional zur Bevölkerung zu verteilen. Aus ethischer Sicht sind beide Strategien "ernsthaft fehlerhaft", schreibt die Forschergruppe.
"Die Idee, Impfstoffe nach Bevölkerungsgruppen zu verteilen, scheint gerecht zu sein", sagte Emanuel. "Doch Tatsache ist: Normalerweise verteilen wir Dinge danach, wie schwer das Leiden an einem bestimmten Ort ist. In diesem Fall ist das primäre Maß für das Leiden die Zahl der vorzeitigen Todesfälle, die ein Impfstoff verhindern würde."
Drei grundlegende Werte
In ihrem Vorschlag verweisen die Autoren auf drei grundlegende Werte, die bei der Verteilung eines COVID-19-Impfstoffs unter den Ländern berücksichtigt werden müssen: Nutzen für die Menschen und Schadensbegrenzung, Vorrang für die Benachteiligten und gleiche moralische Rücksichtnahme auf alle Menschen. Das Modell der fairen Prioritäten konzentriere sich den Forschern zufolge auf die Minderung von drei Arten von Schäden, die durch das Virus verursacht werden können: Tod und dauerhafte Organschäden, indirekte Gesundheitsfolgen wie Belastung und Stress des Gesundheitssystems, sowie wirtschaftliche Zerstörung und Verluste.
Verhinderung des Todes ist oberste Priorität
Die Forscher argumentieren: Die oberste Priorität ist das Verhindern von Todesfällen, insbesondere des vorzeitigen Todes. Dies werde deswegen in der Phase 1 des Modells der fairen Prioritäten verankert. Vorzeitige, durch Corona-Infektionen begründete Todesfälle würden in jedem Land durch die Berechnung der "standardmäßigen erwarteten verlorenen Lebensjahre" ermittelt, einer allgemein gebräuchlichen globalen Gesundheitsmetrik, heißt es.
Drei Phasen zur Verteilung
In der zweiten Phase schlagen die Autoren zwei Metriken vor, für die allgemeine wirtschaftliche Verbesserung sowie das Ausmaß, in dem die Menschen von Armut verschont bleiben würden. In der dritten Phase würden den Forschern zufolge zunächst die Länder mit höheren Übertragungsraten priorisiert. Mittel- und Langfristig sollten jedoch alle Länder genügend Impfstoffe erhalten, um die Übertragung des Coronavirus weltweit zu stoppen. Voraussetzung ist den Angaben zufolge, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sind.
Forscher lehnen WHO-Plan ab: besser auf Bedürfnisse der Länder eingehen
Die Forscher argumentierten gegen den Entwurf der WHO, die Impfstoffe proportional zur Bevölkerung an die einzelnen Länder zu verteilen. Dieser Plan sei zwar politisch haltbar. Er geht jedoch "fälschlicherweise davon aus, dass unterschiedlich gelegene Länder identisch behandelt werden". Viel besser sei es jedoch, gleichberechtigt auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen, erklärten Emanuel und seine Koautoren. In Wirklichkeit seien bevölkerungsgleiche Länder mit einem dramatisch unterschiedlichen Ausmaß an Todesfällen und wirtschaftlicher Verwüstung durch die Pandemie konfrontiert.
Wissenschaftler gegen Vorzugsbehandlungen
Die US-Wissenschaftler wenden sich in ihrer Studie auch gegen die Pläne, bestimmte Gruppen der Bevölkerung, darunter Beschäftigte im Gesundheitswesen sowie Menschen über 65 Jahre und andere Hochrisikogruppen bevorzugt zu impfen. "Die bevorzugte Behandlung von Mitarbeitern im Gesundheitswesens, die bereits Zugang zu persönlichen Schutzausrüstungen (PSA) und anderen fortschrittlichen Methoden zur Prävention von Infektionskrankheiten haben, würden den Schaden in Ländern mit höherem Einkommen wahrscheinlich nicht wesentlich verringern", argumentierten die Forscher.
Eine Konzentration auf Impfländer mit älteren Bevölkerungsgruppen würde die Ausbreitung des Virus ebenfalls nicht verhindern oder die Zahl der Todesfälle minimieren. Zudem gebe es in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen pro Kopf weniger ältere Einwohner und Gesundheitspersonal als in Ländern mit höherem Einkommen, heißt es. Das würde die Ungleichbehandlung von ärmeren und reicheren Ländern verstärken.
Forscher: "Viel Impfstoff für reiche Länder ist nicht fair
"Es ist nicht das Ziel einer fairen und gerechten Verteilung, eine Menge Impfstoff an reiche Länder zu geben", sagt Emanuel. Zusammen mit seinen Kollegen plädiert er. "Das Fair-Priority-Model ist das beste Model, um den Schaden für alle zu begrenzen, einen Nutzen für alle Beteiligten zu gewährleisten als auch für alle Menschen gleichermaßen Sorge zu tragen. Es wird an den politischen Führern, der WHO und den Herstellern liegen, dieses Modell umzusetzen."
Informationen zur Studie Weitere an der Arbeit beteiligte Institutionen sind unter anderem die Universität Denver, die Universität Princeton, die Universität Arizona, die Universität Oxford, die Universität Melbourne, die Universität Toronto, die Universität Groningen, die Universität Manitoba, die Kommission für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Äthiopien, die Facultad Latinoamerica de Ciencias Sociales (FLACSO) in Argentinien, die Universität Bergen, das Norwegische Institut für öffentliche Gesundheit, die Nationale Universität Singapur, die Universität Washington in St. Louis und die Universität Georgetown.
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