Klimawandel Es kippelt schon: Unumkehrbare Folgen durch Klimawandel bei einem Grad Erwärmung möglich
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09. September 2022, 15:26 Uhr
Dass die Welt auf der Kippe steht, ist nicht nur im Volksmund der Fall: Bereits mit der derzeitigen Erderwärmung besteht die Gefahr, dass sich unsere Welt unumkehrbar verändert. Das stellen Forschende in einem aktuellen Bericht im Hinblick auf sogenannte Kipppunkte fest – und sagen: Unser Handeln kann überhaupt nicht schnell genug gehen.
Eigentlich ist die Frage, wer hier wen verhaften sollte: Der Staat, die Menschen, die sich an Gemälden festkleben, um auf die Folgen der Klimakrise hinzuweisen. Oder die Menschen, die Staaten, die wider besseres Wissen nichts oder nicht ausreichend gegen die Erderwärmung unternehmen. In der Wissenschaft macht sich "allmählich" Verzweiflung breit. Ende August wurde im Fachblatt Nature diskutiert, ob denn nicht ziviler Ungehorsam ein probates Mittel für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sei, den Ernst der Lage zum Ausdruck zu bringen. Seit dem Frühjahr haben sich Forschende bereits von der rebellischen Seite gezeigt, z.B. in Großbritannien, wo sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Händen und Forschungspapieren an das Wirtschafts- und Energieministerium geklebt haben. Die Rechtfertigung: Wissenschaftliche Neutralität wird dem aktuellen Ernst der Lage um die Klimakrise nicht mehr gerecht.
Es folgten Verhaftungen durch Vater Staat. Allerdings würde Mutter Natur eher Vater Staat die Handschellen anlegen, wenn man es sich recht überlegt. Vielleicht sogar schon jetzt, wo die sogenannten Klima-Kipppunkte kurz vorm Kippen sind und Forschende zurecht von der Verzweiflung getrieben. Das mit den Kipppunkten (engl. tipping points) müssen Sie sich so vorstellen: Wenn Sie sich an die Mona Lisa festkleben und dann festgeklebterweise denken, dass das vor dem strafrechtlichen Hintergrund eigentlich eine blöde Idee ist und bereits die Gendarmerie in den Louvre einrückt, nützt Ihnen diese Einsicht nichts mehr.
💡 Die Forschung unterscheidet zwischen Kipppunkten mit unumkehrbaren Folgen in Systemen, die die gesamte Welt betreffen (neun Stück) und solchen mit gravierenden regionalen Auswirkungen (sieben). Globale Beispiele sind die Antarktis (Meeresspiegel-Anstieg) oder der Amazonas-Regenwald (grüne Lunge der Erde). Regionale Beispiele sind der westafrikanische Monsun und das Absterben von Korallenriffen um den Äquator.
Das ist unser Problem mit der Klimakrise: Wenn die Veränderung eines Systems – Regenwald, Arktis und so weiter – erstmal ins Rollen gekommen ist, kommt irgendwann der Punkt, an dem sie unumkehrbar ist und das System sich für die nächsten Jahrhunderte oder Jahrtausende nicht wieder regeneriert. Selbst wenn die Menschen feststellen, dass die Erderwärmung eine blöde Idee ist. Diese Kipppunkte sind schon seit vielen Jahren Gegenstand der Klimaforschung, allerdings keine gesetzten Marker. Das zeigt die aktuelle Forschung eines internationalen Teams im Fachblatt Science.
Fünf Kipppunkte schon heute aktuell
Aus anfangs neun Kipppunkten sind inzwischen 16 geworden, und aus einer möglichen Gefahr, diese zu erreichen, ist eine Situation entstanden, in der wir kurz vorm Kippen stehen: Fünf der Kipppunkte könnten schon bei den heutigen Temperaturen ausgelöst werden. Diese betreffen:
- der grönländische Eisschild
- der westantarktische Eisschild
- ein weit verbreitetes abruptes Auftauen der Permafrostböden
- ein Zusammenbruch der Strömungen in der Labradorsee (Nordwestatlantik)
- ein massives Absterben der tropischen Korallenriffe
"Wir sehen bereits Anzeichen für eine Destabilisierung in Teilen des westantarktischen und des grönländischen Eisschilds, in Permafrostgebieten, im Amazonas-Regenwald und möglicherweise auch in der atlantischen Umwälzzirkulation." Das sagt David Armstrong McKay. "Die Welt ist bereits von einigen Kipppunkten bedroht." Es ist nicht einmal mehr die Rede davon, dass das Überschreiten der Kipppunkte verhindert werden kann. Aber das Risiko könne zumindest verringert werden, wenn die Treibhausgasemissionen reduziert werden – schnell und ab sofort.
Noch im sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC war die Rede davon, dass bei zwei Grad Erderwärmung ein hohes Risiko besteht, die Kipppunkte zu überschreiten. Und bei mehr als 2,5 Grad ein sehr hohes. Die aktuellen Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: Bereits bei einer Überschreitung von einem Grad Erderwärmung könnten wir aus der sicheren Zone raus sein und die Welt ins Kippeln bringen.
Eine Fünfzig-fünfzig-Chance wäre schon mal gut
Wir erinnern uns: Das Pariser Klimaabkommen sieht eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter zwei Grad vor, vorzugsweise auf 1,5 Grad. Für eine Fünfzig-fünfzig-Chance, diese 1,5 Grad zu erreichen und damit das Risiko von Kipppunkten zu begrenzen, müssen die globalen Treibhausgasemissionen bis 2030 um die Hälfte gesenkt werden, um bis 2050 eine Netto-Nullquote zu erreichen.
"Die Welt steuert auf eine globale Erwärmung von zwei bis drei Grad zu", sagt Johan Rockström, Mitautor der Studie und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. "Um lebenswerte Bedingungen auf der Erde zu erhalten, die Menschen vor steigenden Extremen zu schützen und stabile Gesellschaften zu ermöglichen, müssen wir alles tun, um das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern. Jedes Zehntel eines Grades zählt."
Das macht klar, wie fragil das klimatische Kartenhaus ist, in dem wir leben. Die Welt stehe vor gewaltigen Aufgaben, die genau jetzt erledigt werden müssen, so der Forschungsbericht. Dazu zählt eine radikal schnelle Dekarbonisierung der Industrie, der Übergang in eine saubere Energiezukunft – und Anpassung. Denn: Die Menschheit muss sich darauf einstellen, dass sich das Überschreiten einiger Kippunkte nicht verhindern lässt und innerhalb der zu erwartenden Folgen Schlimmstes verhindert bzw. Betroffene unterstützt werden müssen.
Gute Laune macht der Bericht freilich nicht. Aber vielleicht trägt er dazu bei, dass künftig nicht gar so viele festgeklebte Forschende von der Gendarmerie eingefangen werden müssen. Die werden schließlich an anderer Stelle gebraucht.
flo
Links/Studien
Die Studie Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points erschien im September 2022 im Fachblatt Science.
DOI: 10.1126/science.abn7950
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