
Diplomatie vs. Aufrüstung "Ich sehe keine Anzeichen, dass Russland NATO-Territorium angreifen kann oder will"
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09. April 2025, 05:00 Uhr
Seit mehr als drei Jahren läuft der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und noch immer ist kein Ende abzusehen. Gleichzeitig fürchten sich viele, dass Russland auch NATO-Gebiet angreifen könnte. Im Interview erklärt der Politikwissenschaftler Johannes Varwick, warum er das für unwahrscheinlich hält und was ihn an der aktuellen Debatte rund um die militärische Aufrüstung Deutschlands stört. Der Wissenschaftler ist am Mittwoch zu Gast bei "Fakt ist!" im MDR FERNSEHEN.
Herr Prof. Varwick: Während sich andere vor einem Angriff Russlands auf NATO-Territorium und damit auch auf uns fürchten, warnen Sie zusammen mit Kollegen in einem Aufruf vor falschem Alarmismus. Was macht Sie so sicher, dass die Gefahr nicht reell ist?
Prof. Johannes Varwick: Das ist meine Bedrohungsanalyse. Ich und meine 15 Kollegen, die sich alle seit Jahrzehnten damit beschäftigen, halten Russland für eine beherrschbare politische Bedrohung. Die NATO und der Westen sind militärisch viel stärker als Russland. Ich sehe auch keine Anzeichen dafür, dass Russland NATO-Territorium angreifen kann oder will.
Von daher finde ich die derzeitige Panikstimmung überzogen. Gleichzeitig sage ich ebenfalls, dass wir eine starke und handlungsfähige Bundeswehr benötigen, aber mit Maß und Mitte. Die europäische Sicherheitsarchitektur muss stabilisiert werden. Immer mehr Rüstung und Militär allein werden nicht helfen.
Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine waren Sie gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für eine diplomatische Lösung. Auf Initiative von US-Präsident Trump gab es zuletzt erste Versuche, den Konflikt diplomatisch zu lösen. Fühlen Sie sich in Ihrer Position bestätigt?
Wir wissen natürlich noch nicht, wie das ausgeht. Jedenfalls ist das eine 180-Grad-Wende. Ich finde es sehr vernünftig, dass Diplomatie jetzt wieder ins Spiel kommt und wir nicht mit unrealistischen Durchhalteparolen und immer mehr Waffenlieferungen einen Abnutzungskrieg befeuern, den die Ukraine nicht gewinnen kann.
2015 wurde mit Russland Minsk II verhandelt, ein Abkommen, das den Krieg in der Ostukraine beenden sollte. Sieben Jahre später folgte die russische Vollinvasion der Ukraine. Warum sollten Verhandlungen diesmal etwas bringen?
Wir haben uns seit drei Jahren die ukrainische Maximalposition zu eigen gemacht, dass man erst verhandeln kann, wenn Russland seinen Irrweg erkennt und aus der Ukraine abgezogen ist. Man kann das so sehen, aber ich bin dafür, dass man ein Preisschild an diese Strategie klebt und dieses lautet: Das wird im Krieg mit Russland enden, was für mich die schlechteste Option wäre.
Besser wäre ein politischer Ansatz, der auf einem Interessenausgleich mit Russland basiert und der die berechtigten Sicherheitsinteressen beider Seiten, der Ukraine natürlich, aber auch der Russen in den Blick nimmt.
Die Sicherheitsinteressen der Russen sind gar nicht so schwer zu lesen. Ein Kerninteresse von ihnen ist, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied wird. Dieser Gedanke, russische Sicherheitsinteressen überhaupt nur in den Blick zu nehmen, ist in Deutschland und in Europa aber komplett unpopulär. Doch genau das machen jetzt die Amerikaner und ich glaube, dass das eine Chance ist.
Gibt es historische Vorbilder, die Sie vielleicht im Kopf haben. Wie kann in der Praxis ein Friedensschluss am besten gelingen?
In der Geschichte endete jeder Krieg entweder mit der Kapitulation. Da hoffe ich nicht, dass das in der Ukraine passiert. Oder es gab politische Verhandlungen, beispielsweise im Vietnam- oder Bosnien-Krieg. Das heißt, die Politik muss wieder ins Spiel kommen.
Das ist die eindeutige Lehre aus der Vergangenheit. In puncto Ukraine wären wir dann übrigens an einem Punkt, wo wir in Istanbul 2022 schon einmal waren, als es bereits recht weitgehende Verhandlungen gab. Der Westen wollte damals keine Lösung.
Im Bonner Hofgarten haben 1983 500.000 Menschen für Frieden und gegen die Nachrüstung demonstriert. Bundeskanzler Helmut Kohl hat den NATO-Doppelbeschluss trotzdem durchgesetzt. Manche meinen, dass es diese Stärke war, die die deutsche Einheit erst möglich gemacht hat. Das wäre doch ein Beispiel, wo Aufrüstung genau richtig war, oder?
Darüber gibt es einen langanhaltenden Streit in der Wissenschaft, was den Kalten Krieg beendet hat. Die einen sagen, wie das ihre Frage unterstellt, dass es Rüstung und Stärke waren.
Die anderen betonen, dass es eher der Ansatz von Willy Brandt war, der auf Ausgleich und Gesprächsangebote gesetzt hat. Ich sehe das nicht dogmatisch. Ich glaube, beides hat eine Rolle gespielt. Das sollte auch künftig wieder so sein. Auf einem Bein kann man nicht gut stehen.
In den vergangenen Wahlkämpfen war Frieden in Ostdeutschland ein großes Thema. Bei manchen Kundgebungen schwang dabei auch Verständnis für Russland mit. Ist das nicht eigenartig, wenn man bedenkt, dass die Russen als Sowjets früher in der DDR eine eher ungeliebte Besatzungsmacht waren?
Ich nehme das völlig anders wahr als Sie. Ich sehe niemanden in Ostdeutschland, der "russenfreundlich" ist. Stattdessen gibt es viele, die den derzeitigen eindimensionalen Kurs falsch finden, die wieder auf einen Interessenausgleich und auf Diplomatie setzen wollen.
Natürlich mag es irgendwelche Ewiggestrigen geben. Aber jetzt jedem BSW-Wähler und im Übrigen auch jedem AfD-Wähler, der für Diplomatie ist, zu unterstellen, dass er ein Russenfreund ist, das ist genau Teil des Problems. Und ich denke, das ärgert die Menschen. Mich auch.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! | 09. April 2025 | 20:15 Uhr