Begnadigung durch Präsidentin Ungarn: Skandal um Kindesmissbrauch
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10. Februar 2024, 04:04 Uhr
Die ungarische Präsidentin Katalin Novák hat einen Mann begnadigt, der sexuellen Missbrauch von Kindern in einem Kinderheim vertuscht hat. Nun werden Rücktrittsforderungen gegen die Präsidentin laut, die sich immer als Kämpferin für Familienwerte inszeniert hat. Anlass für die Begnadigung war ausgerechnet der Besuch von Papst Franziskus, der sich als Oberhaupt der katholischen Kirche selbst mit Missbrauchsskandalen auseinandersetzen muss.
"Novák hat Schande über das Amt des Präsidenten der Republik gebracht und ist damit nicht mehr würdig, es auszuüben." Das Statement der ungarischen Oppositionspartei Demokratikus Koalíció (DK) lässt an Deutlichkeit nichts missen. "Ein Rücktritt wäre in diesem Fall das Mindeste", fordert die ebenfalls oppositionelle Partei Momentum.
Der Skandal nimmt in einem Kinderheim in Bicske seinen Anfang. Über Jahre hatte sich der Leiter des Heimes, János V., an den ihm anvertrauten Kindern vergangen. An mindestens zehn Jungen hat der Heimleiter sexuelle Handlungen vollzogen, der jüngste von ihnen war zum Tatzeitpunkt zehn Jahre alt. Heute ist V. wegen sexuellen Kindesmissbrauchs rechtskräftig verurteilt und sitzt im Gefängnis. Doch selbst, als bereits erste Berichte über seine Taten öffentlich wurden, konnte er noch jahrelang weitermachen. Das lag auch daran, dass er Hilfe hatte: Der stellvertretende Heimleiter, Endre K., hatte seinem Chef geholfen, dessen Gewaltverbrechen zu vertuschen, indem er Opfer unter Druck setzte, ihre Aussagen zurückzunehmen. Er wurde wegen Beihilfe zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Diesen Mann hat Präsidentin Katalin Novák, die zuvor unter Ministerpräsident Viktor Orbán Familienministerin war, begnadigt.
Missbrauchsopfer: "Schämen Sie sich!"
Die Begnadigung erfolgte bereits im April vergangenen Jahres, anlässlich des Papstbesuches in Budapest. Damals hatte Novák an einem Tag 22 Personen ihre Strafen erlassen - so vielen wie seit dem Systemwechsel 1989/90 nicht mehr, wie das Nachrichtenmagazin hvg berichtet. Der Straferlass erfolgte anonym, bekannt wurde zu dem Zeitpunkt nur, dass auch ein rechtsextremer Terrorist unter den Begnadigten war. Erst Anfang Februar hat das unabhängige Nachrichtenportal 444.hu aufgedeckt, dass auch K. begnadigt wurde. Warum Novák, die sich immer als Fürsprecherin von Familien und Kindern inszeniert hatte, ausgerechnet K. für eine Begnadigung auswählte, ist unbekannt.
Seither schlägt die Empörung in Ungarn hohe Wellen: "Schämen Sie sich!", sagt Julian, eines der Opfer des Heimleiters, an die Adresse der Präsidentin gerichtet in der Nachrichtensendung RTL Híradó. Und weiter: "Jemand, der viele Jahre lang an einer Verbrechensserie mitgewirkt hat, die dem Leben zahlreicher Menschen irreparablen Schaden zugefügt hat, ist der Gnade nicht würdig."
Fachleute sind bestürzt
Rechtsanwalt András Gál, der die Missbrauchsopfer von Bicske im Prozess gegen den Heimleiter vertrat, ist fassungslos: "Wenn so etwas passieren kann, dann ist der ein Jahrzehnt dauernde Kampf der Opfer und ihrer Rechtsbeistände vollkommen bedeutungslos geworden", sagte er dem Nachrichtenportal Telex. Er kritisierte auch den Straferlass für den Rechtsterroristen und sagte zur Begnadigung von K: "…das ist ein weiterer riesiger Rückschritt. Es scheint so, als gebe es von nun an keine Grenzen mehr."
Auch der Verband der ungarischen Sozialarbeiter (SzMME) hat mit "Bestürzung und großer Empörung" auf die Nachricht reagiert. In einer Stellungnahme, der sich unter anderem der Lehrerverband und der Beamtenbund angeschlossen haben, kritisiert der Verband außerdem scharf, dass auch das vom Gericht verhängte temporäre Berufsverbot mit aufgehoben wurde und K. somit "weiterhin im Kinderschutz tätig sein kann. Dies ist völlig inakzeptabel und unvereinbar mit allen geschriebenen und ungeschriebenen Prinzipien, Werten und Regeln des Sozial- und Kinderschutzberufs!"
Die Präsidentin äußert sich, erklärt aber nichts
Einige Tage, nachdem der Fall öffentlich geworden war, hat auch die Präsidentin selbst reagiert: "Während meiner Präsidentschaft gab es keine Begnadigung von Pädokriminellen* - und es wird auch keine geben", sagte sie auf die Frage des Fernsehsenders ATV während einer Pressekonferenz. Das stimmt: Endre K. hat selbst keinen Kindesmissbrauch begangen, er wurde wegen Beihilfe verurteilt. Weiter sagte Novák: "Ich verabscheue sexuellen Missbrauch von Kindern*, ich halte ihn für das ekelhafteste, schwerste Verbrechen."
Eine Erklärung, warum sie sich entschieden hat, ausgerechnet K. zu begnadigen, hat die Präsidentin trotz mehrfacher Nachfragen nicht abgegeben. Sie zog sich darauf zurück, dass diese Entscheidungen von Rechts wegen nicht öffentlich begründet werden müssen. Außerdem sei jede Begnadigungs-Entscheidung vom Wesen her spaltend. Stattdessen sagte Novák: "Ich habe Mitgefühl mit allen Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch*", und bot sich als Partnerin an, wenn es darum gehe, "effektiver gegen Pädokriminalität* vorzugehen". Die Rücktrittsforderungen gegen sie hält Novák für eine Kampagne.
Die Opposition protestiert, Orbán reagiert
Die Opposition hält diese Aussagen für vollkommen unzureichend: Die Momentum-Vorsitzende und Europa-Abgeordnete Anna Donáth schrieb auf Facebook: "Kein vernünftiger Mensch, keine politische Seite, kein Argument oder Standpunkt rechtfertigt es, dass so ein Dreckskerl, der die Gewalt eines Pädokriminellen* aktiv unterstützt, wieder frei sein sollte und wieder mit Kindern arbeiten können sollte. Solche Leute findet man nur in der ungarischen Regierung." Und Ungarns grüne Partei (LMP) verlangte bereits vor Nováks Stellungnahme die Herausgabe aller für die Entscheidung relevanten Dokumente. Außerdem will sie eine Gesetzesänderung anstrengen, die das Staatsoberhaupt dazu zwingt, Begnadigungen von erwachsenen Straftätern öffentlich zu machen und bei eine Reihe von Verbrechen auch öffentlich zu begründen.
Politisch hat Katalin Novák in der Sache wohl nichts zu befürchten. Ministerpräsident Viktor Orbán, der Novák zunächst als Familienministerin in sein Kabinett holte und sie dann als Präsidentin vorschlug, regiert Ungarn mit einer verfassungsgebenden Zweidrittelmehrheit. Erst wenn Novák seine Unterstützung verliert, wird es eng für die Präsidentin.
Die Wellen des Skandals schlagen mittlerweile derart hoch, dass sich Orbán am Donnerstagabend zu Wort meldete - allerdings ohne Novák zu kritisieren. Stattdessen kündigte er auf seiner Facebook-Seite an, eine Verfassungsänderung auf den Weg bringen zu wollen. So sollen in Zukunft Straftäter, die Minderjährigen Schaden zugefügt haben, nicht mehr begnadigt werden können. Da die Regierungspartei über die notwendige Mehrheit im Parlament verfügt, dürfte dieser Änderung nichts im Weg stehen.
*Hinweis der Übersetzerin: Novák und Donáth sprechen im ungarischen Original von "pedofíliá" bzw. "pedofilok", also von Pädophilie und von Pädophilen. Im Deutschen beschreibt Pädophilie die "Störung der Sexualpräferenz, die sich in einer Fixierung auf Kinder ausdrückt". Die Neigung allein ist aber kein Verbrechen. Erst sexuelle Handlungen an Kindern (und der Konsum von Darstellungen desselben) sind Straftaten, hier spricht man von Pädokriminalität oder sexuellem Kindesmissbrauch. Auch Novák und Donáth beziehen sich hier auf Straftaten, daher haben wir die Übersetzung angepasst. Mehr Informationen zu den Begriffen finden Sie auf der Webseite der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 29. April 2023 | 07:14 Uhr