Papst Franziskus mit Viktor Orbán
Ungarn will die Fahne des Christentums in Europa hochhalten – Ministgerpräsident Viktor Orbán im Gespräch mit Papst Franziskus. Bildrechte: IMAGO / ABACAPRESS

Überraschende Statistik Ungarn: Orbán pusht die Kirche, die Menschen kehren ihr den Rücken

31. Oktober 2023, 16:16 Uhr

Die christlichen Kirchen nehmen einen wichtigen Platz in der Politik von Viktor Orbán ein. Die rechtsgerichtete Regierung Ungarns betont oft, einen christlichen Kurs verfolgen zu wollen. Trotzdem ist die Zahl der Bürger, die sich als Mitglieder christlicher Kirchen bezeichnen, deutlich zurückgegangen. Dies entspricht zum Teil gesamteuropäischen Tendenzen – könnte aber teils auch daran liegen, dass Orbáns Kirchenpolitik die Gesellschaft spaltet. 

Porträt Kornelia Kiss
Bildrechte: Kornelia Kiss/MDR

Die Ergebnisse der Volkszählung 2022 in Ungarn sind Ende September veröffentlicht worden. Sie enthalten keine guten Nachrichten für die Kirchen: Der Anteil der Menschen, die sich zu einer christlichen Konfession bekannten, ist drastisch zurückgegangen.

Zahl der Gläubigen sinkt, Einfluss der Kirche steigt

Viktor Orbán
Sieht sich als Verteidiger christlicher Werte in Europa: Ungarns Premier Viktor Orbán. Bildrechte: IMAGO / Eibner Europa

Innerhalb von zwei Jahrzehnten hat sich beispielsweise die Zahl der Menschen, die sich als Mitglied der größten Kirche Ungarns, der römisch-katholischen Kirche, bezeichneten, halbiert. 2001 bezeichneten sich noch 5,3 Millionen von den rund 10 Millionen Einwohnern Ungarns als römisch-katholisch – 2022 waren es nur noch 2,6 Millionen.

Dabei spielen das Christentum und die Kirchen eine wichtige Rolle in der Politik der seit 2010 regierenden Fidesz-Partei. In der Kommunikation der Regierung von Viktor Orbán heißt es, dass Ungarn ein christliches Land sei, das die christlichen Wurzeln Europas bewahre – im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern. 

Untericht in einem Klassenzimmer
Ungarisch-Unterricht: Die Zahl der Schulen in kirchlicher Trägerschaft hat zugenommen, obwohl die Ungarn sich immer seltener zum Christentum bekennen. Bildrechte: IMAGO/Zoonar

Der Staat lässt sich dieses offizielle Bekenntnis zum Christentum auch einiges kosten. In Ungarn gibt es anders als in Deutschland keine Kirchensteuer. Die Kirchen erhalten Zuschüsse aus dem Staatshaushalt. Außerdem werden eine Reihe von öffentlichen Aufgaben, wie Schulen und Sozialeinrichtungen, den Kirchen übertragen, aber weiterhin aus dem Staatshaushalt finanziert. Der Anteil der Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft stieg zwischen 2010 und 2020 von 5,6 auf 10,4 Prozent, der der Grundschulen von 9,4 auf 17,1 Prozent und der der weiterführenden Schulen von 10,4 auf 25,2 Prozent.

Die Ergebnisse der Volkszählung kommen für den Religionssoziologen István Kamarás nicht überraschend: "Wir Religionsforscher hatten schon lange auf diese Trends hingewiesen, aber weder die Regierung noch die Kirchen haben uns geglaubt – oder sie wollten uns nicht glauben", sagt er im Gespräch mit dem MDR.

Was die Forscher allerdings nicht vorhergesagt hätten, sei der sehr hohe Anteil der Menschen, die sich nicht erklären wollten. 40 Prozent der Bürger lehnten es ab, die Frage nach der Religionszugehörigkeit überhaupt zu beantworten – bei der Volkszählung 2011 waren das noch 27 Prozent. Kamarás zufolge könnte das Verschweigen unterschiedliche Gründe haben: Einige hielten die Religion einfach für eine private Angelegenheit, andere hätten auf diese Art und Weise vielleicht gegen die Regierung, gegen ihre eigene Kirche oder gegen die Kirchen allgemein protestiert.

Protest gegen Instrumentalisierung der Religion

Pride-Parade in Budapest, 2021
Pride-Parade in Budapest (2021) – Lesben und Schwule werden in Ungarn im Namen "christlicher" Werte gern ausgegrenzt. Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Tatsächlich ist es nicht schwer, in Ungarn Menschen zu finden, die der Regierung kritisch gegenüberstehen und sich bei der Volkszählung religiös nicht bekennen wollten, obwohl sie durchaus eine Beziehung zur Religiosität haben. Csilla aus Budapest (43) wurde beispielsweise getauft und definiert sich nicht als ungläubig: "Ich praktiziere meinen Glauben nicht jeden Tag, aber meine Kinder sind getauft und gehen in der Schule in den Religionsunterricht." Trotzdem hat sie sich geweigert, sich bei der Volkszählung als Mitglied einer Kirche zu bezeichnen. "Warum? Nun, weil ich denke, dass die Regierung sich auf die christlich-konservativen Werte des ungarischen Volkes beruft und dies benutzt, um Hass gegen verschiedene Gruppen zu schüren, zum Beispiel gegen LGBTQ-Menschen oder gegen Nicht-Christen, wie etwa die Migranten", sagt sie. "Jede Faser in meinem Körper sträubt sich dagegen, dass ich der Regierung eine weitere Rechtfertigung für ihre Hasspolitik liefere, indem ich mich als Christ bezeichne. Deshalb möchte ich die Zahl der Christen im Land nicht erhöhen, zumindest nicht in der Statistik", fügt sie hinzu.

Papst Franziskus, Katalin Novák und Viktor Orbán blicken auf Budapest
Papst Franziskus in Budapest (April 2023) – die Bindung an christliche Kirchen als Institution nimmt ab. Bildrechte: IMAGO / ABACAPRESS

Ähnlich denkt Tibor aus Budapest (34): "Der Grund, warum ich geantwortet habe, dass ich nicht religiös bin, ist die Art und Weise, wie die ungarische Regierung und die ungarische Rechte in den letzten Jahren die Religion praktisch zu einer politischen Waffe gemacht haben." Dabei wurde Tibor nicht nur getauft, sondern ging als Kind auch auf eine kirchliche Schule. Heute sagt er, dass er "auf seine Weise religiös" ist – ein Begriff, dem Religionsforscher häufig begegnen. "Das ist ein massiver Trend, vor allem in Europa, dass die traditionelle, an kirchliche Institutionen gebundene Religiosität seit gut 40 Jahren allmählich abnimmt. Das gilt auch für Ungarn", erklärt der Soziologe Kamarás.

Trend: Gläubig außerhalb der Institution Kirche

So können zwei Dinge zusammenfallen: die persönliche Entscheidung religiöser Menschen für eine individuelle Spiritualität auf der einen Seite und der Protest gegen Orbáns Politik und den Missbrauch der Religion auf der anderen Seite. "Die Menschen können heute auf dem Markt der Weltanschauungen, Ideologien und spirituellen Motivationen wählen und sich sogar eine eigene Weltanschauung zusammenbasteln", erklärt Kamarás. Und das sei etwas ganz anderes als in eine Kirche hineingeboren und dort sozialisiert zu werden. "Es ist die ständige, sich wiederholende individuelle Entscheidung, die heutzutage für Europa vor allem charakteristisch ist", so der Soziologe.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 04. November 2023 | 07:17 Uhr

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