Pride-Parade in Budapest, 2021
Immer wieder im Visier der ungarischen Regierung: Queere Menschen, hier auf dem Budapest Pride 2021 Bildrechte: IMAGO/Pond5 Images

Ungarn Ungarn: Kinderschutz mit dem Zollstock

18. Dezember 2023, 15:11 Uhr

Vor gut zwei Jahren verabschiedete die ungarische Regierung ihr umstrittenes LGBTQI-Gesetz nach russischem Vorbild. Damit will sie unter anderem mediale Inhalte, in denen queere Menschen vorkommen, von Minderjährigen fernhalten. Das kann im Zeitalter des Internets nicht funktionieren, treibt derweil aber absurde Blüten - und schadet vor allem denen, die es vorgeblich schützen soll: den Kindern und Jugendlichen.

Porträt Kornelia Kiss
Bildrechte: Kornelia Kiss/MDR

Anfang November bildeten sich in Budapest vor dem ungarischen Nationalmuseum lange Warteschlangen. Der Grund: Die Regierung von Viktor Orbán hatte dafür gesorgt, dass Minderjährigen der Zutritt zur aktuellen Ausstellung World Press Photo 2023 untersagt wurde. Prompt wollten die Budapester wissen, was denn so schlimm sein kann, dass es Jugendlichen unter 18 nicht zuzumuten sei – und bescherten der Schau einen ungeahnten Zulauf.

Menschen bei einer LGBTQ Ausstellung
Nur für Erwachsene: Besucher der World Press Photo 2023 in Budapest vor der Fotostrecke aus einem queerem Altersheim. Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

Die Altersbeschränkung wurde deshalb erlassen, weil die Ausstellung Fotos enthält, auf denen homosexuelle Menschen zu sehen sind. Doch Medien, die Homosexualität abbilden, dürfen in Ungarn nach geltendem Recht Jugendlichen unter 18 Jahren nicht zugänglich gemacht werden. Zum Verständnis: In der Schau waren keinerlei sexuelle Inhalte zu sehen, sondern lediglich eine Reihe von Reportagefotos aus einem Altersheim für queere Menschen in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Doch auch das ist nach Ansicht der Regierung für die ungarische Jugend nicht geeignet, schlussendlich wurde der Direktor des Nationalmuseums, László L. Simon, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter der ungarischen Regierungspartei Fidesz, durch den ungarischen Kulturminister entlassen.

Im Jahr 2021 sorgte Ungarn mit der Verabschiedung dieses hochumstrittenen Gesetzes auch international für großes Aufsehen. Die Regierung nennt das Gesetz ein "Kinderschutzgesetz", aber für Kritiker ist es nichts anderes als eine politische Aktion gegen LGBTQI-Menschen. Das Gesetz verbietet Inhalte, die "Abweichungen von der Identität des Geburtsgeschlechts, Geschlechtsumwandlung und Homosexualität propagieren oder darstellen" für Jugendliche unter 18 Jahren zugänglich zu machen. Das Gleiche gilt für die Darstellung der Sexualität zum Selbstzweck, sowohl in Büchern als auch in anderen Medien.


LGBTQI LGBTQI steht als Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle und Transgender-Personen, Queere und Intersexuelle. Daneben existieren diverse Bezeichnungen, wie LGBTQI+ oder LGBTQIA+, die Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen oder geschlechtlichen Identitäten wie asexuelle Personen einbeziehen.

Schwammige Kriterien führen zu Willkür

In der Praxis kann bereits die bloße Darstellung von Homosexualität als "Propagieren" angesehen werden. Das entscheidet eine Regierungsbehörde, bei Filmen etwa der ungarische Medienrat. Und das anhand von Kriterien, die bestenfalls schwammig sind. Nach seinem Urteil fallen Filme wie "Alles über meine Mutter" von Pedro Almodovár oder "Blau ist eine warme Farbe", das Filmdrama von Abdellatif Kechiche, das die Geschichte eines jungen lesbischen Liebespaares erzählt, in diese Kategorie und sind für Minderjährige verboten. In Deutschland sind diese Filme für Zuschauer ab 12 bzw. ab 16 Jahren empfohlen.  

Das Buch des deutschen Autors Marc-Uwe Kling, «Der Tag, an dem Papa ein heikles Gespräch führen wollte», das aufgrund des sogenannten Kinderschutzgesetzes in Folie verpackt wurde, liegt in der Buchhandlung Libri zum Verkauf aus.
Aus Jugendschutzgründen in Folie eingschweißt: Die ungarische Übersetzung des Kinderbuches "Der Tag, an dem Papa ein heikles Gespräch führen wollte" von Marc-Uwe Kling. Bildrechte: picture alliance/dpa | Marton Monus

Auch eine homosexuelle Figur in einem Buch kann schon ausreichen, um Buchhandlungen zu verpflichten, das Buch getrennt von Jugendbüchern und ausschließlich in Folie eingeschweißt zu verkaufen. Welche Titel konkret betroffen sind, entscheidet hier die ungarische Verbraucherschutzbehörde. "Für einen Buchhändler, dessen Aufgabe es ist, den Menschen Bücher in die Hand zu geben, ist dies eine moralisch schwierige Situation, aber es ist das Gesetz", sagt Krisztián Nyáry, Kreativdirektor der Buchhandelskette Líra, einer der größten Buchhandlungsketten in Ungarn. Außerdem sei völlig unklar, was die gesetzlichen Kategorien wie die Darstellung der Homosexualität oder sogar die Darstellung von Sexualität zum Selbstzweck bedeuten.

Je nach Interpretation könnte ein bedeutender Teil der klassischen Literatur von dem Gesetz betroffen sein – etwa "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann, der in Deutschland häufig Schullektüre ist. Dieser Klassiker erzählt die Geschichte eines älteren Herrn, der sich im Urlaub unglücklich in einen sehr viel jüngeren Mann verliebt.

Ein Gesetz nach russischem Vorbild

"Ähnliche Rechtsvorschriften gibt es (außer in Ungarn – Anm. d. Red.) an zwei Orten in Europa, nämlich in Russland und in der Türkei. Es ist an sich schon sehr traurig, dass ein EU-Land eher zu ihnen aufschließen möchte. Aber dort wissen die Buchhändler, was der Staat von ihnen erwartet. Hier ist es unmöglich, das genau zu wissen. Selbst der Staat setzt das Gesetz selektiv um", schimpft der Kreativdirektor. 

So musste Líra diesen Sommer 12 Millionen Forint (rund 32.000 Euro) Strafe zahlen, weil der Comic "Heartstopper" von Alice Oseman – eine schwule Coming of Age-Geschichte – in die Kategorie Jugendliteratur eingeordnet wurde und nicht in Folie verpackt wurde. Der Buchhändler hat vor Gericht gegen die Strafe geklagt. Aber auch andere Buchhandlungen wurden schon mit Geldstrafen belegt.

Fast wie ein Schildbürgerstreich

Das Gesetz geht aber noch weiter: Im Umkreis von 200 Metern um eine Schule oder Kirche dürfen Publikationen mit beanstandetem LGBTQI-Inhalt überhaupt nicht verkauft werden. So tauchten vor kurzem Mitarbeiter der Verbraucherschutzbehörde in einer Líra-Filiale in Pásztó, einer kleinen Stadt in Nordungarn auf, um auszumessen, ob die Distanz zwischen der Buchhandlung und der nahegelegenen Schule und der Kirche die vorgeschriebenen 200 Meter beträgt. Das war nicht der Fall. Welche konkreten Konsequenzen das für die Buchhandlung hat, ist noch nicht klar. Erfahrungsgemäß kann es bis zu zwei Monate dauern, bis eine Entscheidung getroffen wird, sagt Krisztián Nyáry.

Eine LGBTQ Kundgebung in einem Park
Queerer Protest in Budapest: "Und wann packt ihr mich in Folie ein?" Bildrechte: IMAGO/EST&OST

Wiederstand gegen das Gesetz gebe es zwar, aber nicht genug, um die Regierung zu einer Änderung zu bewegen: "Es gibt Widerstand unter den Menschen, die Buchhandlungen besuchen und Bücher lesen, die aber für die Politik wahrscheinlich nicht wichtig sind. Was wir wissen ist, dass diese Gesetzgebung von den regelmäßigen Lesern, die sehr wohl wissen, dass es kein Buch gibt, das man fürchten müsste, fast vollständig abgelehnt wird", sagt Nyáry.

Kindern schadet das Gesetz

Laut der ungarischen LGBTQI-Organisation Háttér Társaság ist das Gesetz längst nicht nur ein Problem des Buchhandels und anderer Anbieter: die Situation verletze die Rechte der Kinder, die es angeblich schützen wolle: "Das Gesetz ist auch deshalb sehr schädlich, weil es einen sehr starken Abschreckungseffekt hat", sagt Eszter Polgári, Juristin der Háttér Társaság. Betroffene würden aus Angst vor Repressalien Dinge unterlassen, obwohl "das, was sie vorhaben, eigentlich gar nicht gegen das Gesetz verstößt".

Ein Junge betrachtet zwei Frauen auf dem Laptop
Wenn die Schule nicht aufklärt, suchen sich Kinder ihre Informationen im Internet - und landen mitunter auf Pornoseiten. (Symbolbild) Bildrechte: imago/imagebroker/begsteiger

Die Auswirkungen seien besonders in den Schulen zu spüren: "Sexualerziehung und jeglicher Diskurs über sexuelle Orientierungen oder geschlechtliche Identitäten, die sich von der Mehrheit unterscheiden, sind von den Schulen praktisch verschwunden." Obwohl das Gesetz, wie die Juristin sagt, die Diskussion über diese Themen in den Schulen nicht verbietet, nur das "Propagieren" ist nicht möglich. Da aber das Gesetz nicht klar sei, gehen alle den sicheren Weg und sprechen überhaupt nicht darüber. "Die einzigen Informationsquellen für Kinder sind also im besten Fall die Eltern und im schlimmsten Fall das Internet", so Polgári. 

Auch Kreativdirektor Nyáry unterstreicht, dass junge Menschen ohnehin alles im Internet finden können: "Wenn die Buchhandlungen stigmatisiert und als eine Art krimineller Ort dargestellt werden und die Jugendliche keinen Zugang zu diesen Büchern haben, werden sie im Internet suchen. Nur wird man dort nicht unbedingt wertvolle Literatur finden, sondern Pornografie."  Für Nyáry ist das der Beweis dafür, dass die Gesetzgeber "nicht im Geringsten an Kindern interessiert sind". Es gehe dabei nur um eine politische Kampagne.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 16. Dezember 2023 | 11:22 Uhr

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