Lehrerproteste in Ungarn
Schülerschaft, Eltern und Lehrkräfte protestieren bereits seit Monaten für bessere Bedingungen an ungarischen Schulen. Bildrechte: IMAGO / EST&OST

Schule Ungarn: Wie Schüler für ein modernes Bildungswesen kämpfen

06. Juli 2023, 14:51 Uhr

Seit anderthalb Jahren streiken und protestieren die Lehrer in Ungarn für eine Gehaltserhöhung und für eine Reform des Bildungssystems – ohne Erfolg. Doch je länger die Proteste andauern, desto aktiver engagiert sich auch die Schülerschaft. Ihre Forderung: Eine zukunftsorientierte Bildung – wenn nicht mit, dann ohne Orbán. Der ließ derweil ein hochumstrittenes neues Gesetz zum Status der Lehrer beschließen.

Porträt Kornelia Kiss
Bildrechte: Kornelia Kiss/MDR

"Wir haben wirklich versucht, konstruktiv zu sein und mit hunderten von Vorschlägen der Regierung bei ihrer Arbeit zu helfen", sagt Ákos Bozai von der Schülerbewegung ADOM (Bewegung für eine alternative, schülerzentrierte Bildung). Bereits seit mehreren Jahren arbeiten ADOM und ihre Vorgängerorganisation Független Diákparlament (Unabhängiges Schülerparlament) mithilfe vieler Freiwilliger daran, Vorschläge der Schüler für das Bildungssystem zu formulieren. Bislang aber ohne Ergebnis, sagt der 17-Jährige: "Leider war die Regierung schon damals nicht sehr kooperativ, und ignorierte praktisch die Vorschläge, die sie von den Schülern erhielt."

Breites Bündnis, konkrete Vorschläge

Die seit Monaten andauernden Bildungsproteste werden von einem breiten Bündnis getragen. Zivilorganisationen, Lehrergewerkschaften, Eltern- und Schülerorganisationen haben sich zusammengetan, um die neun Punkte zu formulieren, die ihrer Meinung nach zur Verbesserung der Bildungsqualität erforderlich sind: Dazu gehören unter anderem ein glaubwürdiger Dialog über Bildung, höhere Lehrergehälter, mehr Autonomie für die Lehrkräfte – etwa das Recht, die Schulbücher frei auszuwählen – , eine bessere Unterstützung der Pädagogen und ein modernes Bildungsumfeld. "Diese (Punkte – d. Red.) sollten auf jeden Fall umgesetzt werden, um ein wirklich lebenswertes Bildungssystem zu schaffen", meint Ákos Bozai.

Demonstrationszug auf Straße
Eine Demonstration für bessere Bildung am 1. Juni in Budapest. Bildrechte: Kornélia Kiss/MDR

Je länger die Bildungsproteste der Lehrer andauern, desto aktiver haben sich die Schüler an der Bildungsbewegung beteiligt. In den vergangenen anderthalb Jahren organisierten sie in vielen Schulen Unterstützungsaktionen wie etwa Sitzstreiks. Viele waren bei den Demonstrationen anwesend und sie beteiligten sich an der Organisation der Proteste.

Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán dagegen scheint von den Vorschlägen und Protesten unbeeindruckt. Ein neues Gesetz zum Status von Lehrern, das am 4. Juli verabschiedet wurde, hat die Spannungen noch verschärft: Nach Ansicht der Lehrergewerkschaften ist das Gesetz in mehreren Punkten nachteilig für die Lehrer, während es die größten Probleme der Bildung - die niedrigen Löhne und der Lehrkräftemangel - nicht löse.

Harsche Kritik an der Regierung

Am 24. April eskalierte der Streit um die Bildungsreform: Bei einer Demonstration vor dem Büro des Premierministers feuerte die Polizei Tränengas auf die Demonstranten, unter denen sich viele Jugendliche befanden. Mehrere Personen wurden von der Polizei der Gewalt gegen Beamte beschuldigt, was nach Ansicht der Betroffenen völlig unbegründet ist.

Schülerin klebt Protest-Sticker an Hauswand
Eine Schülerin klebt Proteststicker an das ungarische Innenministerium. Bildrechte: Kornélia Kiss/MDR

"Ich glaube, hier beginnt man zu spüren, dass es sich nicht um einen Rechtsstaat handelt" sagt Noel Perlaki-Borsos, der in einer weiteren Schülerorganisation, der Egységes Diákfront (Vereinigte Schülerfront) im Vorstand sitzt. Ziel der Egységes Diákfront sei, die Situation im Bildungswesen zu verbessern, betont Perlaki-Borsos. Er glaubt aber nicht, dass dies ohne einen Regierungswechsel möglich sei: "Wir wollen eine gute Bildung, aber wir können nicht so tun, als wäre das ein System, in dem das ohne einen Regierungswechsel erreicht werden kann." Er glaubt, eine gute Bildung sei für die Regierung von Viktor Orbán überhaupt kein Ziel mehr. Stattdessen setze Orbán auf die Ansiedlung immer weiterer Fabriken, die vor allem Jobs in der Fertigung schaffen.

Es scheint so, dass sie Ungarn zu einem "Fließband-Land" machen wollen, für das die Bildung nicht unbedingt erforderlich ist. 

Noel Perlaki-Borsos

Daher hat die vor sechs Monaten gegründete Organisation sofort zu radikaleren Methoden gegriffen und Proteste organisiert, anstatt ihre Hoffnungen auf den oft stockenden Dialog mit der Regierung zu setzen.

Veraltete Lehrpläne, überforderte Lehrkräfte

Die Schüler erleben viele Probleme im Schulalltag: In der Schule werde ein "veraltetes, unzureichendes Wissen" vermittelt, das weder wettbewerbsfähig sei noch dabei helfe, die Probleme der Zukunft zu lösen, kritisiert Noel Perlaki-Borsos: "Der Lehrplan basiert auf lexikalischem Wissen. Man muss viel mehr konkrete Daten auswendig lernen, als praktische Aufgaben machen, bei denen wir unser Wissen tatsächlich anwenden. Außerdem wird sehr wenig Wert auf Gruppenarbeit gelegt." Noel hat inzwischen die staatliche Schule verlassen und besucht nun eine Privatschule.

Noel Perlaki-Borsos und Ákos Bozai
Kämpfen für bessere Bildung: Noel Perlaki-Borsos (links) und Ákos Bozai (rechts) Bildrechte: Kornélia Kiss/MDR

Doch die meisten Schüler in Ungarn haben keine andere Möglichkeit, als die staatlichen Schulen zu besuchen. Schulen, in denen sowohl die Lehrkräfte als auch die Schüler überfordert seien: "Die Lehrer sind müde, ausgebrannt, sie haben keine Lust, zu unterrichten", sagt Ákos Bozai von ADOM. "Ich gehöre zu den Glücklichen, denn ich lerne relativ leicht. Aber diejenigen, für die das nicht gilt, sitzen oft bis ein oder zwei Uhr morgens über ihren Lehrbüchern."

Den Protest ins ganze Land tragen

Inzwischen arbeiten die beiden Schülerorganisationen, die hauptsächlich Budapest-zentriert sind, daran, ihre Mitgliederzahl in den ländlichen Gebieten zu erhöhen. Denn sie haben nicht vor, den Protest für Bildung aufzugeben. Und sie weisen die Vorwürfe von regierungsnahen Akteuren zurück, dass sie von einer politischen Partei oder von sonstigen Akteuren gelenkt würden. Stattdessen konzentrieren sich die Schülerinnen und Schüler auf die Sacharbeit, sagt Ákos Bozai. "Wir müssen auch das kleinste Problem im Bildungssystem finden, und wir müssen es mit der Gesellschaft und der Regierung teilen, um Veränderungen erreichen zu können." Auch er macht sich über die Reformbereitschaft der Regierung wenige Illusionen: "Ein Regierungswechsel ist nicht in erster Linie unser Ziel, sondern die Verbesserung des Bildungssystems. Wenn dies nicht anders erreicht werden kann, müssen wir die Regierung stoppen oder stürzen."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 08. Juli 2023 | 07:17 Uhr

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