Schlecht bezahlt und bevormundet Ungarns Lehrer gehen auf die Barrikaden
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02. November 2022, 13:31 Uhr
Umgerechnet 500 Euro monatlich verdienen Lehrer in Ungarn in den ersten zehn Berufsjahren. Danach steigt der Verdienst – mehr als 970 Euro werden es aber auch dann nicht. Kein Wunder, dass sich kaum noch junge Leute für den Beruf interessieren. Mindestens 16.000 Lehrerstellen sind laut Gewerkschaft unbesetzt. Seit Wochen gehen Tausende Lehrer auf die Straße, um darauf aufmerksam zu machen. Ministerpräsident Orbán will mehr Geld locker machen – falls die EU zurückgehaltenes Geld freigibt.
Ein Blick in die Statistik zeigt schnell die Hauptursache für den Lehrermangel in Ungarn – schlechte Bezahlung. Die Gehälter der ungarischen Lehrer liegen bei etwa 60 Prozent des Durchschnittsgehalts von Hochschulabsolventen – deutlich unter dem OECD- und unter dem EU22-Durchschnitt (90 Prozent). Eine ungarische Lehrkraft verdient im Schnitt etwa 400.000 Forint (970 Euro), jedoch liegen die Gehälter der Berufseinsteiger deutlich darunter, bei etwa 500 Euro, und steigen in den ersten anderthalb Jahrzehnten einer Pädagogenkarriere kaum. Dass der Beruf für junge Hochschulabsolventen unattraktiv ist, belegen auch die Zahlen: Fast die Hälfte der Lehrer in Ungarn ist über 50 Jahre alt – 2019 lag der Anteil bei 45 Prozent.
Ungarns Lehrern platzt der Kragen
Am 23. Oktober, dem Jahrestag des ungarischen Aufstands von 1956 und deshalb Nationalfeiertag, demonstrierten in der ungarischen Hauptstadt Zehntausende für ein Reform des Bildungswesens. Die Demo wurde von der Schülerbewegung ADOM (Bewegung für eine alternative, schülerzentrische Bildung) und von der Demokratischen Gewerkschaft der Pädagogen organisiert. Schülerorganisationen und Lehrergewerkschaften sowie zahlreiche Zivilorganisationen hatten sich auf neun Hauptforderungen geeinigt. Die Gehalterhöhung ist nur eine davon. Außerdem wird eine geringere Arbeitsbelastung für Schüler und Lehrer, mehr Freiheiten im Beruf, die Wiederherstellung des Streikrechts für Lehrer, das die Regierung eingeschränkt hat, und ein eigenständiges Bildungsministerium, das seit 2010 nicht mehr existiert, gefordert.
"Die Lehrer verlassen den Beruf, weil man seinen Lebensunterhalt dort nicht verdienen kann – das ist einfach eine Frage der Mathematik. Es gibt keine Lehrer" – so Csilla, Gymnasiallehrerin aus Budapest, die an der Demonstration teilnahm. Doch sie hält auch die anderen Forderungen für ebenso wichtig: "Ein Problem ist es, dass das hohe Pensum die Kinder überfordert. Das halte ich nicht für gesund. Bei so einem Lehrplan kann man solche Fähigkeiten wie Kreativität nicht entwickeln. Für Projektarbeit, Diskussionen, Debatten – also für alles, was nicht die Vermittlung von reinem Faktenwissen ist – haben wir gar keine Zeit. Die Texte in den Lehrbüchern sind immer knapper gehalten, mit immer weniger Erklärungen. Sie sind für die Kinder immer weniger verständlich", so die Pädagogin.
Staat will volle Kontrolle über die Schulen
Auf die Machtübernahme der Orbán-Regierung 2010 folgte eine Zentralisierung im Bildungswesen: Die Schulverwaltung, die früher Aufgabe der Gemeinden war, wurde von einem überregionalen Zentrum übernommen. Auch die Lehrbücher werden von der zentralen Bildungsverwaltung entwickelt. Die Schüler erhalten sie kostenlos und ihre Nutzung ist für die Lehrer obligatorisch. Die Zentralisierung wird bis heute von Bildungsexperten und Pädagogen kritisiert, nicht nur wegen ihrer bürokratischen Natur, sondern weil sie den Schulen und dem einzelnen Lehrer nur wenige Freiheiten lässt, den Unterricht an die lokalen Verhältnisse anzupassen – obwohl diese Fähigkeit des Bildungssystems laut Kriszta Ercse, Bildungsforscherin und Sprecherin der Zivilorganisation "Zivile Plattform für die öffentliche Bildung" lebenswichtig wäre. Denn ein weit entferntes Zentrum sei nicht in der Lage, flexibel zu reagieren, Dialoge zu führen und in ständiger Partnerschaft mit der Schule zu arbeiten: "Die Zentralisierung des ungarischen Bildungswesens hatte keine fachlichen Gründe, es ging vielmehr darum, dass die Regierung eine starke Kontrolle ausüben will, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, die selten fachlicher, sondern meist politischer Natur waren", meint Ercse.
Orbán verspricht höhere Gehälter – EU soll zahlen
Seit September haben mehr als 150 Proteste in 62 Orten Ungarns stattgefunden – in Form von Demonstrationen, Menschenketten und anderen Solidaritätsaktionen. Außerdem findet ein Rollstreik statt. Die Regierung leugnet nicht, dass die Lohnforderungen berechtigt sind. Sie macht nun das Angebot, die Gehälter stufenweise zu erhöhen, so dass der Durchschnittslohn bis 2025 achtzig Prozent des Durchschnittsgehalts von Hochschulabsolventen erreicht. Die Kosten dafür will die Regierung mithilfe von EU-Subventionen decken, die die EU wegen der Rechtsstaatsverstöße Ungarns einstweilen zurückhält. Für 2023 ist eine Lohnerhöhung von 21 Prozent vorgesehen, jedoch lag die Inflation in Ungarn im September bereits bei 20,1 Prozent – die Lehrer werden damit nach wie vor keine großen Sprünge machen können.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 29. Oktober 2022 | 07:15 Uhr