Bildung Warum Ungarns Schüler lieber in Österreich lernen
Hauptinhalt
20. April 2023, 15:31 Uhr
Ungarische Schüler, die an der Westgrenze Ungarns leben, besuchen immer häufiger eine Schule im Nachbarland Österreich. Ihre Eltern wollen nicht nur, dass sie Deutsch lernen. Ihnen gefällt auch nicht, was und wie in den ungarischen Schulen unterrichtet wird. Sie wünschen sich eine Schule, die sich stärker an der Praxis orientiert. Mit der Schulwahl üben sie somit auch Kritik am ungarischen Schulsystem.
Jeder hundertste ungarische Schüler besucht bereits eine Schule in Österreich, meist im Burgenland – das hat vor Kurzem das ungarische Wirtschaftsfachportal G7 berichtet. Das Portal hat die Daten von Statistik Austria und die des Statistischen Zentralamtes von Ungarn analysiert. Im Schuljar 2010/2011 haben 2.117 ungarische Schüler in einer österreichischen Schule gelernt, im Schuljahr 2021/22 waren es schon fünfmal so viele – 10.646. Angesichts der Debatte über Probleme des ungarischen Bildungswesens haben diese Zahlen für Aufsehen gesorgt.
Besserer Sprachunterricht, kleinere Klassen
Die Bildungsforscherin Judit Langerné Buchwald, Juniorprofessorin an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, hat im Rahmen einer Studie 60 Familien befragt, die ihre Kinder auf eine österreichische Schule schicken. Als häufigstes Motiv für die Schulwahl wurde genannt, dass die Kinder in Österreich nicht nur Deutsch, sondern auch weitere Fremdsprachen auf einem hohen Niveau lernen können. Denn Fremdsprachen nehmen im österreichischen Lehrplan deutlich mehr Platz ein als im ungarischen.
Als weiteren Vorteil nannten die Eltern kleinere Klassen, was auch eine OECD-Statistik zur durchschnittlichen Klassengröße in verschiedenen Ländern bestätigt – in Österreich lag sie 2020 bei 18 Schülern, in Ungarn bei 22. Hinzu kommt, dass die Schulbildung in Österreich nach Ansicht der befragten Eltern praxisorientierter ist. Die Wahl einer österreichischen Schule kann der Forscherin zufolge also auch als Kritik am ungarischen Bildungswesen verstanden werden.
Die Eltern hoffen, dass das österreichische Bildungssystem ihren Kindern bessere Chancen bietet.
Die Studie zeigt außerdem, dass das Phänomen vor allem Kinder mit guten Fähigkeiten und gutem sozialem Hintergrund betrifft, die schon als Schüler ihre zukünftige berufliche Laufbahn in Österreich planen. Die ungarische Wirtschaft kann auf sie als Arbeitnehmer und Steuerzahler kaum noch hoffen.
Ungarische Schüler stimmen mit den Füßen ab
Zu den Schülern, die dem ungarischen Bildungssystem den Rücken gekehrt haben, zählt die Tochter von Daniella (Name von der Redaktion geändert). Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Daniella selbst Lehrerin ist. Ihre Tochter besuchte anfangs eine zweischprachige Schule in Budapest. Doch die hat Daniellas Erwartungen nicht erfüllt. Alle Probleme des ungarischen Schulwesens, wie niedrige Lehrergehälter, Lehrkräftemangel und eine hohe Fluktulation im Beruf, machten sich Daniella zufolge auch an dieser vermeintlichen Eliteschule bemerkbar.
Es kam vor, dass ein Fach im selben Semester von drei verschiedenen Lehrern unterrichtet wurde. Wir mussten das Kind am Ende zu Hause unterrichten.
Trotz des lückenhaften Unterrichts hätten die Lehrer von den Schülern hohe Leistungen erwartet, berichtet Daniella. "Manchmal wurden acht Tests in einer Woche geschrieben." Der Leistungsdruck habe ihre Tochter überfordert: Sie habe schlecht geschlafen und an Gewicht verloren. Von Bekannten erfuhr Daniella dann von der Schulbildung in Österreich. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter pendelt, also zogen sie wegen der Schule nach Österreich. Ihre Tochter hat dort im vergangenen September die sechste Klasse angefangen.
Lernen in Österreich: entspannt und praxisbezogen
Aus Daniellas Sicht war das die richtige Entscheidung: "Es ist eindeutig besser für das Sprachenlernen. Die Lehrer sind freundlich und hilfsbereit. Sie gehen mit Situationen humorvoll um und sind auf die Kinder eingestellt. Es gibt nicht so viele Tests."
Sarolta (Name ebenfalls geändert) hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Ihre beiden Kinder pendeln seit September jeden Tag nach Österreich in die Schule – auch das war eine große Entscheidung für die Familie. "Wir haben unseren Wohnort, unsere Jobs und die alte Schule aufgegeben und sind in Grenznähe gezogen", so Sarolta.
Ihre Motivation war vor allem der Wunsch, sich Richtung Westen zu orientieren, weil sie mit den Entwicklungen in Ungarn nicht einverstanden ist. Mit der österreichischen Bildung sei die Familie zufrieden: "Sie ist viel praxistauglicher als die ungarische. Der Schwerpunkt liegt auf Deutsch, Englisch und Mathe, und nicht darauf, möglichst viele Informationen auswendig zu lernen", sagt Sarolta.
Ein Neustart in Österreich ist allerdings nicht für alle Familien leicht. Daniella kennt andere Familien, die extra wegen der Schule ins Nachbarland gezogen sind. Doch einige hätten nach ein oder zwei Jahren wieder aufgegeben. Ob man es schaffe oder nicht, hänge, so Daniella, davon ab, ob man im neuen Land beruflich und finanziell klarkomme. Für sie persönlich war der Umzug eine Erfolgsgeschichte: "Meine Tochter hat viel davon profitiert: Sie ist ruhiger, sie hat viele Erfahrungen gesammelt und sie spricht jetzt fließend Deutsch."
Wer darf eine Schule in Österreich besuchen?
Um eine staatliche Volksschule in Österreich besuchen zu können, brauchen die Schüler eine Wohnanschrift im Land. Diese Regel wurde in der Vergangenheit allerdings häufig umgangen: 2013 mussten sich die Bürgermeister mehrerer burgenländischer Geimeinden wegen Scheinanmeldungen ungarischer Schüler vor Gericht verantworten. Einer von ihnen gab sogar zu: Man habe um Kinder gekämpft. Es ging um höhere Schülerzahlen, damit eine Schulschließung verhindert werden konnte.
Ab der fünften Klasse ist ein Schulbesuch auch ohne Wohnanschrift in Österreich möglich. Diese Möglichkeit bieten oft Schulen in der Trägerschaft von Vereinen, Stiftungen und Kirchen. Erleichternd hinzu kommt, dass es im Burgenland eine ungarische Minderheit gibt und somit zweisprachige Schulen vorhanden sind. Die Anzahl der zugelassenen ungarischen Pendlerschüler und die Zulassungsbedingungen werden von den Schulen selbst festgelegt.
Was sagt Ungarns Regierung zum Schülerexodus?
Zum Schülerexodus in grenznahen Regionen hat sich die ungarische Regierung bislang nicht geäußert. Dass es Probleme im Bildungssystem gibt, hat sie aber zumindest indirekt eingeräumt – sie gibt zu, dass die Lehrergehälter unter den Durchschnittslohn von Hochschulabsolventen gefallen sind und erhöht werden müssen. Die geplanten Gehaltssteigerungen will die Regierung mit EU-Geldern finanzieren.
Außerdem werden einige Strukturreformen vorbereitet, unter anderem ein neues Leistungsbewertungssystem und ein Gesetz, dass die Stellung der Lehrer regelt. Letzteres wird von den Gewerkschaften allerdings kritisiert, weil sie der Meinung sind, dass es das Problem des Lehrkräftemangels nur verbrämen, aber nicht wirklich lösen wird.
Änderungen am ungarischen Lehrplan, den viele Pädagogen und Eltern als überfrachtet, unzeitgemäß und praxisfremd kritisieren, sind dagegen derzeit nicht vorgesehen. Der Lehrplan ist aber einer der Gründe, warum immer mehr ungarische Eltern ihre Kinder auf eine Schule in Österreich schicken.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 30. November 2022 | 19:30 Uhr