Unterbezahlt und verachtet Horror Schule: Polens Lehrer schmeißen hin

26. September 2022, 18:17 Uhr

Polens Lehrer flüchten gerade massenhaft aus den Schulen. Sie wechseln in die freie Wirtschaft, gründen eigene Firmen, manche gehen sogar in die Produktion. Viele Jobs sind finanziell einträglicher als der Lehrerberuf und oft auch nervenschonender – ohne Druck der Politik, herumnörgelnde Eltern und schlecht erzogene Kinder. Schuldirektoren wissen unterdessen nicht, wie sie noch Stundenpläne bauen sollen.

Cezary Bazydlo
Bildrechte: Cezary Bazydlo | MDR

Die polnischen Medien überbieten sich seit Wochen mit Aussteigergeschichten über Lehrer, die der Schule den Rücken gekehrt haben. Der Fernsehsender TVN porträtierte einen Geschichtslehrer, der nach sieben Jahren im Beruf ein Bestattungsinstitut gründete. Das Internetportal onet.pl sprach mit einer Lehrerin, die nach zehn Jahren ein Café eröffnete. Und die Tageszeitung "Wyborcza" interviewte Aleksandra Tatulińska – eine Polnischlehrerin, die nach 18 Jahren in der Schule nur noch freiberuflich Nachhilfestunden gibt.

Als ich ging, habe ich mich außerordentlich erleichtert gefühlt. Die Liste der Dinge, die mich belasteten, wurde mit jedem Tag länger.

Aleksandra Tatulińska, Polnischlehrerin Gazeta Wyborcza, 12.08.2022

Diese Beispiele stehen für eine regelrechte Flucht aus dem Beruf, die sich in Polen gerade vollzieht. Nicht immer sind die neuen Jobs so spektakulär wie der eines Bestatters. Manche Aussteiger verschlägt es an eine Supermarktkasse oder ans Fließband, denn selbst dort kann man inzwischen mehr verdienen. Schätzungen zufolge sind 17.000-20.000 Lehrerstellen in Polen unbesetzt – so viele wie noch nie. An einer Grundschule im Warschauer Stadtteil Ursynów haben gleich 23 der 150 Lehrer kurz vor Beginn des neuen Schuljahrs gekündigt.

Lehrer: heiß begehrt...

Ein polnischer Lehrer schreibt etwas an eine Tafel.
Immer mehr Lehrer in Polen schmeißen hin. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Schuldirektoren müssen regelrecht betteln gehen, um die Lücken zu füllen. Sie beknien Pensionäre, wiederzukommen, und bitten die noch verbleibenden Lehrer, Überstunden zu leisten. Manche sehen in ihrer Verzweiflung Nachhilfeinserate durch und rufen dort an. Und wenn sich ein Lehrer darauf einlässt, wird nicht selten der ganze Stundenplan nach ihm ausgerichtet – insbesondere bei den gefragtesten Fächern wie Mathe, Englisch, Polnisch, Physik, Chemie und Biologie.

Die Folgen für die Schüler sind drastisch: Der Unterricht in manchen Fächern fällt wochenlang aus oder wird von fachfremden Lehrkräften erteilt – der Kunstlehrer sattelt dann auf Zahlen um und der Polnischlehrer frischt seine bescheidenen Deutschkenntnisse auf, um in die Bresche zu springen. Die alten Klassenbücher in Papierform feiern ein Comeback, weil es keine Informatiklehrer gibt, die sonst das digitale Klassenbuch pflegten. Die Stundenpläne sind oft extrem schülerunfreundlich: An einem Tag der Woche gibt es zum Beispiel nur vier Unterrichtsstunden, am nächsten neun bis zum späten Nachmittag. Vereinzelt gibt es sogar Schichtbetrieb – mit einer Spätschicht von 15 bis 20 Uhr. Für Hobbys und Entspannung bleibt kaum Zeit übrig.

... aber schlecht bezahlt

Hauptursache für die Misere sind die niedrigen Gehälter. Berufseinsteiger bekommen den gesetzlichen Mindestlohn, der derzeit umgerechnet 630 Euro beträgt. Vor 20 Jahren lag das Einstiegsgehalt noch bei 165 Prozent des Mindestlohns. In Zeiten galoppierender Inflation wirkt sich das verheerend aus. Um halbwegs über die Runden zu kommen, müssen Lehrer Überstunden schieben, Nachhilfeunterricht geben oder – wie es in Facebook-Gruppen heißt – einen gutverdienenden Partner haben.

Aleksandra Tatulińska, die jetzt nur noch von Nachhilfestunden lebt, bekam zuletzt 4.000 Złoty "auf die Hand", umgerechnet 840 Euro. Damit zählte sie schon zu den Gutverdienern: "Ich habe sämtliche Überstunden angenommen, hatte eine Zulage als Klassenlehrerin und fürs Dienstalter. An staatlichen Schulen bekommen Sie kaum mehr raus." Dabei hatte sie mit ihrem Fach einen Trumpf in der Hand, denn die Schüler müssen viele Polnischstunden absolvieren. Kunst- oder Physiklehrer, deren Fächer deutlich seltener auf dem Stundenplan stehen, was weniger Überstunden bedeutet, bekämen auch nach 20 Jahren im Beruf nur 3.000 Złoty (630 Euro), berichtet Tatulińska. "Und das Schlimmste ist: Danach gibt es kaum Chancen auf eine Gehaltserhöhung."

Wenig Wertschätzung für Lehrer in Polen

Doch es geht nicht nur ums Geld. Polens Lehrer klagen über ausufernde Bürokratie, geringe Wertschätzung, zu hohe Ansprüche der Eltern und schlecht erzogene Kinder. "Manche Eltern haben anonyme Beschwerden gegen mich geschrieben: dass ich zu viel verlange, dass ich zu streng bin, dass ich beim Fernunterricht auf eine eingeschaltete Webcam und ein Mindestmaß an Aktivität bestehe", beklagt sich Tatulińska in der Zeitung "Wyborcza". Diese Beschwerden, die auch nach Ansicht der Schulleitung unbegründet gewesen seien, hätten sie psychisch enorm belastet – und sie in ihrem Entschluss zur Kündigung bestärkt.

Untereinander klagen Lehrer oft über derartige Dinge – in der Gesellschaft stoßen sie aber auf Unverständnis. Sie gelten vielen als Faulenzer, die wenig arbeiten und lange Ferien haben. Die Regierung nutzte das beim Lehrerstreik 2019 aus: statt auf die Forderungen einzugehen, schürte sie solche Vorurteile und hetzte Eltern gegen die Lehrer auf. Geleakte E-Mails belegen, dass es sich um eine gezielte Kampagne handelte, die vom Pressestab der PiS gesteuert wurde. Die Motivation der Lehrer hat darunter enorm gelitten, viele machen nur noch "Dienst nach Vorschrift".

Auch für die Aussteigerin Tatulińska war der Lehrerstreik ein Wendepunkt. Im Gespräch mit "Wyborcza" sagt sie, ihr sei unmittelbar nach dem Streik klar geworden, dass die Regierenden keinen Dialog wollten und "mindestens die Hälfte der Gesellschaft" feindliche Gefühle gegen Lehrer hege. "Damals habe ich beschlossen, Freiberuflerin zu werden und die Nachhilfestunden zu meinem Haupterwerb zu machen", berichtet sie.

Politik will Schüler indoktrinieren

Schülerinen und Schüler halten vor dem Bildungsministerium in Warschau Schilder in die Luft.
Schülerprotest am 4. September 2022. Die Jugendlichen fordern u.a "Bildung statt Indoktrination". Bildrechte: MAGO / NurPhoto

Für Frust sorgt auch eine Ideologisierung der Schule, die Lehrer unter Bildungsminister Przemysław Czarnek wahrnehmen. Während die Jugendlichen in Polen seit Jahren immer liberaler werden und mit dem nationalkonservativen PiS-Programm nichts anfangen können, versucht Czarnek junge Menschen zu künftigen PiS-Wählern und eifrigen Katholiken umzuerziehen.

Momentan erregt das neue Fach "Geschichte und Gegenwart" die Gemüter, das ab diesem Schuljahr die Gesellschaftskunde ersetzt. Stein des Anstoßes ist das erste Lehrbuch dafür, das von einem PiS-nahen Professor geschrieben wurde. Liberalismus und Feminismus vergleicht er darin mit dem Nationalsozialismus. Eine weitere kuriose Behauptung: Die EU versuche, den Atheismus durchzusetzen – dabei gebe es doch keinerlei Beweise für die Nicht-Existenz Gottes! Auch Homophobie und antideutsche Ressentiments werden geschürt. Viele Lehrer lehnen das als plumpe Indoktrination ab.

Aleksandra Tatulińska hat all das hinter sich gelassen. Für sie war die Kündigung in der Schule ein Befreiungsschlag: "In den letzten Jahren habe ich zwölf Stunden am Tag gearbeitet". Jetzt arbeite sie nur noch acht Stunden täglich, verdiene genug Geld und könne "endlich so unterrichten, wie ich mir das erträumt habe".

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 24. September 2022 | 07:30 Uhr

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