Nach der Europawahl Rechtsruck in Ungarn? – Erdbeben in der Parteienlandschaft
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27. Juni 2024, 05:00 Uhr
Nach der Europawahl scheint es, dass die politische Szene in Ungarn von rechtsgerichteten Kräften übernommen wurde. Rund 80 Prozent der Stimmen wurden bei der Wahl für rechte Parteien abgegeben. Auch der neue Herausforderer des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, Péter Magyar mit seiner neugegründeten Tisza-Partei, kommt weder von der liberalen Seite noch von der Linken. Doch bedeutet das tatsächlich einen Rechtsruck?
Der politische Newcomer Péter Magyar hat bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in Ungarn einen beachtlichen Erfolg erreicht. Obwohl er und seine Partei erst seit wenigen Monaten auf der politischen Bühne stehen, hat die Partei Respekt und Freiheit (ungarisch "Tisztelet és Szabadság", kurz: Tisza) bei der EU-Wahl 29,6 Prozent der Stimmen erhalten. Die Regierungspartei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hat inzwischen mit 44,8 Prozent ihr bisher schwächstes Wahlergebnis bei einer EU-Wahl erzielt.
Ungarn wählen mehrheitlich konservativ
Doch das ist nicht die einzige Auffälligkeit an dem Wahlergebnis, denn Ungarn scheint noch mehr nach rechts gerückt zu sein. Rund 80 Prozent der Stimmen wurden für rechte Parteien abgegeben, die linken und liberalen Kräfte haben hingegen große Verluste erlitten. Die sozialliberale Demokratische Koalition, die früher die führende Oppositionskraft war, war im Bündnis mit zwei anderen Kleinparteien mit sehr geringer Unterstützung angetreten: der Ungarischen Sozialistischen Partei und den Dialog-Grünen. Sie erreichten acht Prozent der Stimmen. Die liberale und pro-europäische Momentum-Partei hat die Fünf-Prozent-Hürde nicht erreicht und scheidet aus dem Europäischen Parlament aus.
Von diesen Verlusten hat offenbar Magyars neue Formation profitiert, die einen Mitte-Rechts-Charakter hat. Außerdem erreichte die rechtsextreme Partei Unsere Heimat ("Mi Hazánk") 6,7 Prozent. Doch die Ereignisse deuten nicht unbedingt auf einen Rechtsruck hin. Dem Politikforscher Gergely Rajnai zufolge gebe es weiterhin linke und liberale Wähler in Ungarn, nur sind sie im Moment nicht so sehr an einer ideologischen Wahl interessiert, sondern eher daran, wer das aktuelle System von Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei stürzen könnte. In so genannten dominanten Parteiensystemen, in denen über mehrere Jahrzehnte die gleiche Partei an der Macht ist, sei dies ein übliches Phänomen.
Rechtsruck oder Protest gegen Orbán?
"Man wird sich als Wähler dort positionieren, wo man Stärke und Dynamik sieht. Diese linken und liberalen Wähler stimmen nun in aller Seelenruhe für rechte Parteien, weil sie das Gefühl haben, dass dies die beste Chance ist, das bestehende System irgendwie zu verändern", so Rajnai, leitender Analyst des Think-Tanks Zentrum für faire politische Analyse (Méltányosság Politikaelemző Központ) in Budapest.
Rajnai betont, dass sich die Situation in Ungarn von derjenigen in den westeuropäischen politischen Systemen unterscheidet. Denn in Ungarn existiere eine solche Parteibindung der Wähler, wie zum Beispiel die der Wähler der Altparteien in Deutschland, gar nicht: "Es gibt in Ungarn keine Wähler, die sich praktisch ein Leben lang an eine bestimmte politische Richtung binden. Sie können vielmehr sehr leicht von einer Partei zur anderen wechseln."
Diese Gefahr bestehe jedoch nicht nur für linke und liberale Parteien, die nun bei der Wahl schwere Verluste erlitten haben, oder für die Regierungspartei Fidesz, sondern auch für die Tisza-Partei, die als Ein-Mann-Partei von Péter Magyar in die Politik eintrat. "30 Prozent sind ein Lager von ernstzunehmender Größe, das aber sehr vielfältig ist, so dass sogar Kleinigkeiten ausreichen können, um bestimmte Wähler der Partei zu entfremden", so Rajnai. Mit der Zeit könnte Magyar, der jetzt als neue Figur in der Politik interessant ist, fürs Publikum langweilig werden. Außerdem stehe seine Partei vor der Aufgabe, Strukturen aufzubauen. Selbst eine Ein-Mann-Partei brauche ein paar Leute, die an der Seite des Anführers arbeiteten, sagt der Politikforscher.
Liberale Verlierer hoffen auf Comeback
Für die Parteien, die bei der Europawahl den Großteil ihrer Wähler verloren haben, werde es laut Rajnai sehr schwierig sein, unter diesen sich rasch verändernden Bedingungen am Leben zu bleiben. In der liberalen Partei Momentum ist man trotzdem nach wie vor zuversichtlich, dass die Nachfrage der Wähler nach liberalen Werten zurückkehren wird. Momentum war ein großer Verlierer bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Ergebnis von 3,7 Prozent der Stimmen war ein enormer Rückgang im Vergleich zu den fast zehn Prozent, die Momentum 2019 holte.
Die Parteivorsitzende Anna Donáth und der Vorstand traten nach der Wahl zurück. Über eine neue Führung und Strategie wird demnächst parteiintern entschieden. Man hat aber nicht die Absicht, von liberalen Werten abzuweichen: "Natürlich sehen wir es als Scheitern an, dass wir nicht ins Europaparlament geschafft haben, und auch, dass praktisch rechtskonservative Parteien 80 Prozent der Stimmen geholt haben. Aber wir fassen die Stimmen für die Tisza-Partei nicht als Stimmen für eine rechtskonservative Politik auf", sagt der Parlamentsabgeordnete von Momentum, Miklós Hajnal, gegenüber dem MDR. Laut Hajnal ging es bei dieser Wahl in Wahrheit darum, dass die Menschen Viktor Orbán ablösen wollen. Sie sähen jetzt vor allem in Magyar und seiner Tisza-Partei eine Chance dafür.
Der liberale Politiker glaubt jedoch daran, dass noch andere Zeiten kommen könnten: "Sobald wir eine Wahl haben werden, bei der die Menschen die Möglichkeit haben, auf der Grundlage von Werten zwischen den Parteien zu wählen, wird dies von Bedeutung sein, und ich denke, dann werden viele Menschen wieder Momentum unterstützen, wie sie es früher getan haben", so Hajnal. Er glaube daran, dass sich ein konsequentes Wertekonzept auf lange Sicht politisch auszahlen werde.
MDR (baz)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 13. Juli 2024 | 10:35 Uhr