Eine Mutter mit drei kleinen Kindern
Frauen in Ungarn sollen so viele Kinder wie möglich gebären. Dafür wirbt der Staat mit zahlreichen Vergünstigungen – die sich allerdings auf verheiratete Hetero-Eltern beschränken. Bildrechte: IMAGO / EST&OST

Emanzipation adé Testlabor Ungarn: Frauen zurück an den Herd!

11. Oktober 2022, 11:27 Uhr

Frauen sollen sich nach dem Willen der Fidesz-Regierung aufs Kinderkriegen und die Arbeit in der Familie konzentrieren. Das spiegelt sich auch in der ungarischen Familienpolitik wieder. Doch Ungarn ist nur ein Testlabor – diese Ideen werden über internationale Netzwerke konservativer Fundamentalisten verbreitet.

Am 15. September trat in Ungarn ein neues Dekret zur Abtreibung in Kraft. Frauen, die sich dazu entschließen, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, werden nicht nur wie bisher dazu gezwungen, davor zwei Beratungsgespräche zu führen – sie müssen neuerdings auch eine ärztliche Bescheinigung vorlegen, dass sie mit den Lebenszeichen des Embryos konfrontiert wurden. Üblicherweise ist damit der Pulsschlag der Zellen gemeint, die sich zum Herz des Fötus entwickeln werden.

Die Frauenrechtsorganisation Patent kritisiert, dass die Regelung ohne öffentliche Debatte und Expertenanhörungen eingeführt wurde und hält sie für reine Schikane: "Diese neue Vorschrift wird keine Leben retten, indem sie Frauen dazu zwingt, sich den Herzschlag des Fötus anzuhören. Stattdessen wird sie Frauen demütigen, sie unter noch größeren Druck setzen, und stellt letztlich ihr Recht und ihre Fähigkeit infrage, Entscheidungen bezüglich ihres eigenen Lebens und Körpers zu treffen", hieß es in einer Stellungnahme.

"Nun ist der ungarische Innenminister nicht eines Morgens aufgewacht und hatte die Eingebung, das so zu regeln", sagt Andrea Petö, Professorin für Gender Studies an der CEU in Wien. "Das 'Herzschlagprinzip' wurde von den christlichen Fundamentalisten aus den USA übernommen – und über den World Congress of Families (WCF) verbreitet". Der WCF wurde von christlichen Fundamentalisten aus den USA und russischen Intellektuellen gegründet und setzt sich nicht nur gegen Abtreibungen, sondern auch gegen Pornographie und nicht-heterosexuelle Liebe ein. Inzwischen ist er zu einem schlagkräftigen internationalen Netzwerk geworden, das die rigiden Anti-LGBT-Gesetze in Russland unterstützt hat. Der WCF wird von der US-amerikanischen Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center als Anti-LGTB-Hategroup geführt. Gleichwohl ließ es sich Viktor Orbán nicht nehmen, bei einer WCF-Tagung 2017 in Budapest persönlich vorbeizuschauen und eine Rede zu halten.

Gebärmaschinen im Dienst des Landes

Wenige Wochen bevor die neue Abtreibungsregelung erlassen wurde, machte Ungarn erneut Schlagzeilen in Bezug auf Frauenrechte. Der ungarische Rechnungshof hatte eine Studie mit dem Titel "Pink Education" herausgebracht, in dem er den hohen Anteil an Frauen (derzeit: 54,55 %) an den Hochschulen beklagte. Dies könne sich negativ auf die Demographie auswirken. Gebildete Frauen, so die Argumentation, fänden schwerer Ehepartner und würden seltener Kinder bekommen.

Briefmarke mit einer Familie
Das Frauenbild der Fidesz ähnelt dieser Briefmarke von 1979: Vater, Mutter, Kinder – keine alleinerziehenden oder geschiedenen Mütter, keine gleichgeschlechtlichen Eltern. Bildrechte: IMAGO / YAY Images

Was für viele westliche Medien nicht mehr als eine groteske Fußnote aus einem rechtspopulistisch regierten Land war, hält Geschlechterforscherin Petö für gefährlich, weil so grundlegende Menschenrechte in Frage gestellt würden: "Hier wird ein Diskurs normalisiert, in dem Frauen noch nicht einmal daran denken sollen, gleiche Rechte zu haben. In dieser Vorstellung sind sie anders und sollen sich auf die Familie und das Kinderkriegen konzentrieren."

Das neue Abtreibungsrecht und die Einlassungen des Rechnungshofes passen sich nahtlos ein in die Familienpolitik der Fidesz-Regierung in den vergangenen zwölf Jahren. Sie hat vor allem die Geburtensteigerung zum Ziel und ordnet die Rechte der Frauen diesem Ziel unter. Die Fidesz-Spitzenpolitiker Szilárd Németh und László Kövér brachten es nahezu wortgleich auf die Formel: "Wer die Welt mit Babys füllt (wörtlich übersetzt: voll gebärt), dem gehört die Welt."

Nicht alle Familien werden gefördert

Deswegen ist die Familienpolitik, die sich nach Viktor Orbáns Worten "auf die Mutter stützen muss", ein Kernprojekt von Fidesz. Die Regierung ist entsprechend bereit, viel Geld in die Hand zu nehmen. Rund fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes gebe Ungarn für Familien aus, verkündete Orbán im vergangenen Jahr stolz. Nun ist Familienförderung an sich unproblematisch und wird in vielen Ländern der EU gemacht – ebenfalls mit dem Ziel, dem demographischen Wandel entgegenzuwirken. Doch in Ungarn ist sie nur auf Familien beschränkt, die dem Wunschbild der Regierungspartei entsprechen.

Welche Familien in den Augen von Fidesz gemeint sind und welche nicht, zeigt ein Blick in die Verfassung: "Ungarn schützt die Institution der Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau und die Familie als die Grundlage für das Überleben der Nation. Das Fundament der Familie ist die Ehe und die Eltern-Kind-Beziehung. Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann", heißt es in Artikel L, der 2020 zuletzt novelliert wurde. Es werden also nicht alle Familien geschützt, sondern nur ein bestimmtes Modell: verheiratete heterosexuelle Eltern und ihre ehelichen Kinder.

Ungarn können Ehekredite "abkindern"

Wie das praktisch aussieht, zeigt ein Kreditprogramm für Familien: So können ungarische Ehepaare nach ihrer Hochzeit einen Kredit von bis zu zehn Millionen Forint erhalten, umgerechnet knapp 24.000 Euro – allerdings nur, wenn es für einen von beiden die erste Ehe und die Frau nicht älter als 40 Jahre alt ist. Die Rückzahlung dieses Kredites ist auf 20 Jahre angelegt, wird aber bei der Geburt des ersten Kindes für drei Jahre ausgesetzt. Beim zweiten Kind wird ein Drittel der Summe erlassen und die Rückzahlung weitere drei Jahre gestundet. Beim dritten Kind gibt es die restliche Schuldensumme geschenkt. Kurz: Je schneller eine Frau viele Kinder bekommt, desto besser.

Eine Mutter unterwegs mit zwei kleinen Kindern
Ehepaare können ihren Ehekredit "abkindern" – müssen dafür aber drei Kinder zur Welt bringen. Für zwei Kinder wird immerhin ein Teil der Schulden erlassen. Bildrechte: IMAGO / EST&OST

Dazu kommen zahlreiche andere Maßnahmen: So zahlen Frauen ab dem vierten Kind bis zur Rente keine Einkommenssteuer mehr. Es gibt Zuschüsse für Familien mit drei und mehr Kindern, wenn sie sich ein siebensitziges Auto kaufen. Außerdem gibt es günstige Immobilienkredite für Familien – je mehr Kinder, desto günstiger die Konditionen. Von den meisten dieser Maßnahmen haben aber vor allem wohlhabende Familien etwas. Wer arm ist, profitiert davon kaum, denn solche Menschen zahlen ohnehin keine Steuern und besitzen weder Autos noch Häuser.

Und der Erfolg dieser Politik? Tatsächlich werden seit dem Regierungsantritt von Fidesz etwas mehr Kinder geboren: Die Fertilitiätsrate stieg zwischen 2012 und 2021 leicht von 1,34 auf 1,59 Geburten pro Frau (Deutschland: 1,53). Trotzdem werden die Ungarn immer weniger: Es sterben nach wie vor mehr Menschen als geboren werden – wie in fast allen EU-Staaten. 

Frauen sollen Emanzipation aufgeben

Wie sich Fidesz die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau vorstellt, zeigt ein Video der damaligen Familienministerin Katalin Novak aus dem Jahr 2020: Darin spricht sie darüber, wie Frauen stark und erfolgreich sein können. "Wir sollten nicht glauben, dass wir Frauen uns permanent mit Männern messen müssen", so Novak. "Wir sollten nicht glauben, dass wir uns jeden Moment unseres Lebens vergleichen müssen und mindestens dieselbe Position und Bezahlung erreichen müssen". Die Stärke der Frauen, so Novak, sei es, für andere Verantwortung zu übernehmen und zugunsten der Familie zu verzichten: "Geben wir unsere Privilegien (sic!) nicht wegen eines falschverstandenen Kampfes für Emanzipation auf!"

Im gleichen Jahr weigerte sich das ungarische Parlament, die Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen gegen Gewalt zu ratifizieren. Ministerpräsident Orbán begründete diesen Schritt 2020 mit der Behauptung, die Konvention würde eine "Gender-Ideologie" und "illegale Migration" unterstützen – Letzteres, da sie vorsieht, dass wegen ihres Geschlechtes Verfolgte als Flüchtlinge aufzunehmen sind. Überhaupt ist alles, was unter dem Stichwort "Gender" gefasst werden kann, zum Feindbild geworden: Bereits 2018 hatte die Regierung Orbán das Fach Gender Studies in einem damals beispiellosen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit und Hochschulautonomie aus dem Lehrplan gestrichen.

Der "Gender"-Popanz ist aber kein ausschließlich ungarisches Phänomen: Rechtskonservative, rechtspopulistische und neofaschistische Politiker weltweit von Russland über Polen, Italien und die USA haben den vermeintlichen "Gender-Wahn" zum Feindbild erkoren. Gender-Forscherin Andrea Petö warnt daher davor, Ungarn als Anomalie zu sehen: "Das ist eine transnationale Bewegung. All diese Ideen kommen von irgendwoher. Sie sind keine ungarischen Besonderheiten. Es ist leicht, Orbán als Hauptfeind zu sehen. Aber das ist er nicht. Ungarn ist nur ein Labor, in dem all diese politischen Maßnahmen getestet werden." 

Vorletzter Platz laut EU-Gleichstellungsindex

Präsidentin Katalin Novak mit Familie bei ihrer Inauguration
Ungarns Präsidentin Katalin Novak mit Familie bei ihrer Amtseinführung. Mit drei Kindern hat die Politikerin das Soll erfüllt. Bildrechte: IMAGO / Xinhua

Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass der Gleichstellungsindex der Europäischen Union von 2021 Ungarn EU-weit auf dem vorletzten Platz sieht. Schlechter schnitt nur Griechenland ab. Der Index bemisst die Gleichstellung zwischen Mann und Frau anhand verschiedener Kriterien, wie etwa Gehalt, Bildung, Gesundheit und Frauen in Entscheidungspositionen. Es ist vor allem die Verteilung von Machtpositionen, die bemängelt wird. Dieser Trend setzt sich auch nach den Parlamentswahlen in diesem Jahr fort: Nur 14 Prozent der Abgeordneten sind Frauen, in Orbáns aktuellem Kabinett sitzen 14 Männer einer einzigen Frau, Justizministerin Judit Varga, gegenüber.

Der Karriere der ehemaligen Familienministerin Katalin Novak hat ihr Antifeminismus dagegen nicht geschadet: Die Orbán-Vertraute, die Ungarn immer wieder bei der Hassgruppe WCF vertreten hat, wurde im März dieses Jahres vom Parlament zur Staatspräsidentin gewählt.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 15. Oktober 2022 | 07:15 Uhr

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