Viktor Orban, der ungarische Ministerpräsident, hält seine Rede bei einer Gedenkfeier zum Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 inmitten der Sorge vor einem bewaffneten Angriff.
Ungarns Ministerpräsidentn Viktor Orbán bei einer Rede zum Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Revolutions-Gedenken Ungarn: Kniefall vor dem Kreml?

26. Oktober 2024, 04:59 Uhr

Ungarn galt als fröhlichste Barracke des Ostblocks. 1989 waren sie Ersten, die den eisernen Vorhang zerschnitten und DDR-Bürgern die Ausreise in den Westen ermöglichten. Das hat nach ungarischem Verständnis viel mit dem Aufstand von 1956 zu tun, als das kleine Land der Sowjetunion die Stirn bot. Daran wurde in Ungarn dieser Tage erinnert. Doch die Lehren aus 1956 werden von der Regierung derzeit kräftig umgedeutet - um ausgerechnet dem Kreml zu gefallen, wie zahlreiche Kritiker vermuten.

Diese Worte schlugen in Ungarn ein wie eine Bombe: "Vor dem Hintergrund unserer Erfahrung von 1956 würden wir nicht denselben Weg wählen, den Präsident Selenskyj vor zweieinhalb Jahren gewählt hat, weil er leichtsinnig ist. Er hat sein Land in einen Verteidigungskrieg geführt, so viele Menschen sind gestorben, so viele Gebiete wurde verloren." Das hatte Balazs Orbán, der zwar nicht mit dem rechtspopulistischen Ministerpräsidenten verwandt ist, aber als einer seiner engsten Berater gilt, in einem Podcast gesagt.

Zwar wies Orbán auch explizit auf das Recht der Ukraine hin, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Aber: "Wenn man uns gefragt hätte, hätten wir es nicht empfohlen", sagte er mit Bezug auf die Revolution von 1956. "Denn wir haben gelernt, dass wir vorsichtig sein müssen, dass wir mit sehr kostbaren ungarischen Leben sorgsam umgehen müssen." Ungarn würde sich also im Ernstfall nicht gegen eine russische Aggression verteidigen? Mit dieser Aussage hat der Vertraute des Premiers einen handfesten Skandal provoziert, denn die Erinnerung an den Aufstand von 1956 ist für die Ungarn identitätsstiftend. Deshalb ist sogar von Landesverrat die Rede.

Das eigene Land nicht verteidigen?

Balázs Orbán habe die Erinnerung an 1956 "auf dem Altar der niederträchtigen täglichen Propaganda-Kommunikation geopfert" und "die Grundlagen des ungarischen Konstitutionalismus und der Unabhängigkeit mit Füßen getreten", schrieb Peter Magyar, der derzeit wichtigste Herausforderer von Premier Viktor Orbán auf Facebook, und forderte, der Regierungsberater müsse bis zu dem heutigen Gedenktag seinen Stuhl räumen. 

 Balázs Orbán
Hat sich mit einem historischen Vergleich kräftig in die Nesseln gesetzt: Balázs Orbán, Vertrauter des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán (nicht verwandt). Bildrechte: IMAGO / Middle East Images

Auch der ehemalige Ministerpräsident und heutige Parteichef der Sozialdemokratischen DK, Ferenc Gyurcsány, äußerte sich auf Facebook: "Das bedeutet, dass die Regierung Orbán dieses Land ohne Gegenwehr Russland überlassen würde. (…) Das bedeutet, dass die Orban-Regierung Ungarns Souveränität Russland gegenüber aufgegeben hat und sie nicht verteidigen will", schäumte Gyurcsány in einer Video-Botschaft. "Nach 14 Jahren Regierungszeit hat die Regierung Orbán Ungarn verkauft, es aufgegeben, verraten. An diesem Punkt stehen wir."  

Landesverrat oder nur ein Missverständnis?

Auch Fachleute äußerten sich bestürzt über die Aussagen von Balázs Orbán. So schrieb der Historiker Krisztián Ungvári in einem Kommentar auf dem Nachrichtenportal telex, der Regierungsberater würde einen "Landesverrat" vorbereiten, denn seine Worte würden bedeuten, dass die Regierung im Falle eines Angriffes nicht vorhätte, das Land zu verteidigen. Und weiter: "Aus der Äußerung von Balázs Orbán folgt, dass die einzig weise politische Entscheidung in der ungarischen Geschichte am 19. März 1944 getroffen wurde, als die ungarische Regierung die Truppen des Deutschen Reiches mit Verständnis empfing und nicht mit dem sogenannten sinnlosen Kampf, um sozusagen Blutvergießen zu vermeiden." Bei der Besetzung Ungarns durch Nazi-Deutschland war nicht ein einziger Schuss gefallen.

Viktor Orbán (Fidesz), Ministerpräsident von Ungarn, steht im Plenarsaal des Europäischen Parlaments und spricht.
Ministerpräsident Viktor Orbán (hier im EU-Parlament) verteidigt seinen Berater. Bildrechte: picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Ministerpräsident Viktor Orbán sagte in einem Interview, die Aussagen seines Beraters seien "missverständlich", und ein "Fehler" gewesen, "schließlich steht unsere Gesellschaft auf den Fundamenten der Revolution von 1956 und sind aus ihr erwachsen. Der Ministerpräsident kritisierte aller Versuche, einen Vergleich zwischen der ungarischen Geschichte und der Lage der Ukraine heute: "Wir sollten in der Debatte über Krieg und Frieden die Ereignisse und Helden der ungarischen Geschichte, die uns heilig sind, wie die von 1956, nicht einbeziehen, sondern uns von ihnen fernhalten." Gehen muss sein Berater deshalb aber nicht. Im Gegenteil: Der Premier fügte hinzu, dass er sicher sei, dass auch Balázs Orbán für die Heimat kämpfen würde, wenn die Lage es erfordern würde. 

Die enorme Bedeutung der Revolution von 1956

Dass die Geschichtsinterpretation eines politischen Beraters derartige Wellen schlägt, liegt vor allem daran, dass die Ungarn der Revolution von 1956 eine enorme Bedeutung beimessen. Sie wird als Sinnbild für die Freiheitsliebe der Ungarn gesehen, für die Bereitschaft, große Opfer zu bringen, um seine Geschicke selbst – und unabhängig von Moskau – in die Hand zu nehmen. 

Ministerpräsident Viktor Orbán legte den Grundstein seiner politischen Karriere mit der inzwischen berühmten Heldenplatz-Rede von 1989. Damals sprach er im Gedenken an die Revolution von '56 und forderte am Grab eines Ihrer Anführer, Imre Nagy, dass die russischen Truppen Ungarn verlassen müssten – damals eine sehr mutige Aussage. Bis heute steht in seiner Twitter-Bio als erstes: "Freedom Fighter", also Freiheitskämpfer. Überhaupt gehört der Bezug auf 1956 fest zum politischen Rede-Repertoire gerade dieser Regierung, etwa bei Konflikten mit der EU: Man habe sich nicht unter der Knute Moskaus herausgewunden, um sich nun Brüssel zu unterwerfen. Daher ist die Forderung des Premiers, nun ausgerechnet im Fall des Abwehrkampfes der Ukraine gegen Russland keine Vergleiche zu ziehen, ungewöhnlich.

Aufständische auf einem Panzer in Budapest
Identitätstiftende Erinnerung: Aufständische auf einem Panzer in Budapest 1956. Bildrechte: IMAGO / ZUMA/Keystone

Der Historiker János M. Rainer hingegen warnte davor, die Frage, was man aus den Ereignissen von 1956 lernen könne, zu tabuisieren, obwohl auch er der Ansicht ist, dass die Interpretation von Balázs Orbán wohl eher der nach der niedergeschlagenen Revolution von Moskau eingesetzten Kádár-Regierung entspräche. Doch er zog noch einen anderen, in ungarischen Augen viel schmerzhafteren Vergleich: Denn als sich die Ungarn in jenen 13 Tagen im Herbst 1956 mit wachsender Verzweiflung gegen die sowjetischen Panzer zur Wehr setzten - baten sie verzweifelt den Westen um Hilfe. Doch diese Hilfe kam nie. "Jetzt handelt Ungarn so, wie ´56 der Westen". Immer wieder hatte Ungarn die EU-Hilfen für die Ukraine blockiert.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 17. Oktober 2024 | 08:09 Uhr

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