Präsidentenerlass Ukraine schaltet prorussische Fernsehsender ab
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08. Februar 2021, 13:54 Uhr
Nach einem überraschenden Dekret von Wolodymyr Selenskyj werden prorussische Nachrichtensender in der Ukraine blockiert. Der Präsident greift damit den wichtigsten Putin-Vertrauten in seinem Land an. Doch es bleiben nicht nur rechtliche Bedenken - die abgeschalteten Sender sind auch Sprachrohr einer Oppositionspartei, die Selenskyj bei den nächsten Wahlen ernsthaft Konkurrenz machen könnte.
Mit einem beispiellosen Dekret zündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche eine politische Bombe. Im Laufe nur weniger Stunden wurden die russlandfreundlichen Nachrichstensender Kanal 112, NewsOne und ZIK ohne Ankündigung abgeschaltet. Die Grundlage dafür boten Sanktionen, die gegen den formellen Eigentümer der TV-Sender, Taras Kosak, verhängt wurden. Kosak ist Parlamentsabgeordneter der prorussischen Partei "Oppositionsplattform" um den umstrittenen Politiker Wiktor Medwetschuk. Medwetschuk gehört zum engen Freundeskreis des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ukrainische Medien halten es für ein offenes Geheimnis, dass der eigentliche Eigentümer Medwedtschuk selbst ist.
Illegale Finanzierung aus dem Separatistengebiet?
Das Dekret Selenskyjs setzte einen Entschluss des Sicherheitsrates in Kraft, der auf den Ermittlungen des Inlandsgeheimdienstes SBU basiert haben soll. Die offizielle Begründung ist jedoch vage. "Die Meinungsfreiheit endet, wenn in die ukrainische Souveränität eingegriffen wird", erklärte etwa SBU-Chef Iwan Bakanow. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge ist der Hauptgrund des Vorgehens aber, dass Kosak die Sender zum Teil von Firmen aus den prorussischen Separatistengebieten im Donbass finanziert hatte. Offiziell bestätigt ist das allerdings nicht: Der Sicherheitsrat verweist unter anderem darauf, dass einige Dokumente geheim sind.
"Die Sender dürfen nicht außergerichtlich gesperrt werden", kritisierte Serhij Tomilenko, Chef des ukrainischen Journalistenverbandes. "Dies darf nur im Rahmen einer gesetzlichen Prozedur passieren." Tatsächlich gibt es rechtliche Zweifel an dem Dekret des Präsidenten. Neben den ausbleibenden Gerichtsverfahren ist es strittig, ob die ukrainische Gesetzgebung es zulässt, Sanktionen gegen eigene Staatsbürger zu verhängen. Selenskyjs Pressesprecherin Julia Mendel verteidigt die Sperrung der Sender aber: "Das hat nichts mit einem Angriff auf die Pressefreiheit zu tun. Die Sender sind zu einem der Kriegsinstrumente gegen die Ukraine geworden. Sie wurden im Sinne der nationalen Sicherheit blockiert."
TV-Sender als Sprachrohr der prorussischen Partei
Völlig Unrecht hat Mendel dabei nicht. Nachdem Kanal 112, NewsOne und ZIK allesamt zwischen 2018 und 2019 von Kosak gekauft wurden, entwickelten sie sich zu einem Sprachrohr der "Oppositionsplattform". Über die Tätigkeit der Partei, darunter auch über Reisen der Mitglieder nach Russland, wird seitdem ausführlich berichtet. Die Sender bleiben bei Fragen wie die Zugehörigkeit der von Russland annektierten Krim-Halbinsel zwar auf dem Boden der ukrainischen Gesetzgebung – dennoch wird offen für eine Freundschaft mit Moskau geworben oder wird zum Beispiel die Maidan-Revolution von 2014 gelegentlich als Staatsstreich bezeichnet – dem russischen Narrativ entsprechend.
Womöglich ist dies aber nicht die einzige Motivation Selenskyjs, die Sender zu schließen. Zuletzt mehren sich die Umfragen, die die "Oppositionsplattform" landesweit auf Platz eins in der Wählergunst sehen. Gleichzeitig stürzt die Präsidentenpartei "Diener des Volkes" immer spürbarer ab. Auch die persönliche Beliebtheit des Präsidenten bröckelt. Dabei konkurriert er im Osten des Landes ausgerechnet mit der "Oppositionsplattform". Diese wird wiederum überwiegend von der älteren Bevölkerung gewählt, die aufs Fernsehen auf Hauptinformationsquelle angeweisen ist, während die Medwedtschuk-Sender im Nachrichtensegment zu den Anführern gehörten.
Selenskyjs Kalkül ist riskant
Offenbar hofft Selenskyj, dass mit der Abschaltung der Sender mit der Zeit auch die Unterstützung für die "Oppositionsplattform" sinkt. Zudem scheint der Zeitpunkt für Selenskyj glücklich gewählt. Während Russland mit dem Fall Nawalny beschäftigt bleibt, ist mit einer harten Reaktion Moskaus nicht zu rechnen. Doch dieses Kalkül ist auf mehreren Ebenen äußerst riskant. Vor allem ist es kaum vorstellbar, dass das Zielpublikum des Senders von dem Schritt des Präsidenten begeistert sein wird. Die "Oppositionsplattform" versucht, die Vorlage zu nutzen und fordert die Amtsenthebung Selenskyjs. Die Chancen darauf dürften allerdings bei Null liegen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 27. Juli 2020 | 19:30 Uhr