Gegen Abweichler bei Abstimmungen Ukraine: Regierungspartei überwacht Abgeordnete mit Handy-App
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20. Februar 2021, 06:28 Uhr
Noch im Sommer 2019 errang "Diener des Volkes" die absolute Mehrheit im Parlament. Anderthalb Jahre später fällt die Partei des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj immer mehr auseinander. Verschiedene Interessengruppen stimmen gegen die Parteilinie ab. Eine Handy-App soll deshalb Disziplin und Abstimmungstreue verbessern.
Vor seinem Amtsantritt hat Präsident Wolodymyr Selenskyj den Ukrainern den "ganzen Staat in einem Smartphone" versprochen. Mit der Entwicklung der Staats-App Dija ("Aktion"), die fast alle staatlichen Dienstleistungen auf dem Bildschirm eines Handys vereint, machte seine Regierung bereits einen Riesenschritt in Sachen Digitalisierung. Doch nun digitalisiert sich auch Selenskyjs Partei "Diener des Volkes". Ihre Parlamentsfraktion, die formell über die absolute Mehrheit verfügt, hat seit Ende Januar eine eigene App, deren Nutzung für die Abgeordneten verpflichtend ist.
Absolute Mehrheit nur noch illusorisch
Zwar kann die Fraktions-App jeder im App-Store heruntergeladen - für die einfachen Nutzer ist der Funktionsumfang jedoch auf Informationen begrenzt. So kann man sich in der einfach gestaltenen, in den grünen Parteifarben stilisierten App anschauen, wer für welche Gesetze gestimmt hat und welche Abgeordneten die meisten Sitzungen verpassen. Den Abgeordneten stehen dagegen deutlich mehr Funktionen zur Verfügung. Die App soll laut Parteiführung als vollständiges interaktives Kommunikationsmittel dienen – und die Fraktionsdisziplin verbessern.
Denn die bei der Wahl im Sommer 2019 erworbene absolute Mehrheit der Selenskyj-Partei existiert längst nur noch auf dem Papier. In Wirklichkeit besteht die Fraktion aus mehreren Interessengruppen, zu denen etwa die prowestlichen Abgeordneten oder die Abgeordneten um den umstrittenen Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehören. Immer öfter stimmen einige dieser Gruppen gegen die Parteilinie ab, weswegen die Stimmen der eigenen Fraktion nicht mehr ausreichen, um Gesetzentwürfe durchzubringen. In der internen Version der App sieht man nun, zu welcher Gruppe ein Abgeordneter gehört. Dies bestätigen Fotos, die Journalisten von der Medientribüne des Parlaments machen konnten.
Handy-App überwacht Parteitreue bei Abstimmungen
Mit der Anwendung können die Fraktionsmitglieder zudem vorab über wichtige Fragen abstimmen und Initiativen liken. Dies soll der Fraktionsführung einen besseren Überblick geben, ob eine konkrete Position tatsächlich breite Unterstützung hat. Vor allem bietet die App aber sogenannte Effektivitäts- und Destruktivitätsrankings an. Bei diesen wird in erster Linie berücksichtigt, wie oft ein Abgeordneter gegen die vorgegebene Parteilinie gestimmt hat. Das schafft internen Druck auf die Abgeordneten, die öfter von der Parteilinie abweichen.
So wurde etwa der Kolomojskyj-nahe Abgeordnete Olexander Dubinskyj, der als Erster auf Platz eins des Destruktivitätsratings landete, bereits aus der Fraktion ausgeschlossen. Darüber wurde ebenfalls vorab in der App abgestimmt, obwohl die entscheidene offizielle Abstimmung mit echten Wahlzetteln durchgeführt wurde. Dubinskyj ist allerdings als informeller Vertreter des Oligarchen Kolomojskyj ohnehin umstritten. Er wurde vor kurzem von den USA wegen möglicher Wahlbeeinflussung auf die US-Sanktionsliste gesetzt. Dubinskyj hatte an Pressekonferenzen mit einem russlandnahen Abgeordneten teilgenommen, der seinerzeit die Gespräche zwischen Joe Biden in seiner Rolle als US-Vizepräsident und dem Ex-Präsidenten der Ukraine Petro Poroschenko veröffentlichte. Mehreren ukrainischen Medien zufolge sendete auch die US-Botschaft in Kiew wegen Dubinskyj deutliche Signale an Selenskyj, der schließlich offen für seinen Fraktionsausschluss plädierte. Es ging also weitgehend um Außenpolitik. Trotzdem spielte in diesem Fall auch die App zum ersten Mal eine erhebliche Rolle.
Schlechte Aussichten für "Diener des Volkes"
Die Sorgen der Parteiführung und das Bestreben, mehr Disziplin in der Fraktion zu schaffen, sind jedenfalls verständlich, denn "Diener des Volkes" hat massiv an Wählergunst eingebüßt. In einigen Umfragen stürzte die Partei bereits bis auf den vierten Rang ab. Die nächsten Parlamentswahlen sollen planmäßig zwar erst 2023 stattfinden, doch bereits jetzt ist klar, dass das Ergebnis von 2019 wohl kaum wiederholt werden kann. Und so gilt es jetzt schon zu retten, was zu retten ist – auch mit digitalen Mitteln.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 03. Februar 2021 | 10:15 Uhr