Jahresbilanz Selenskyjs Reform-Regierung enttäuscht die Ukrainer

22. Juli 2020, 09:10 Uhr

Ausschließlich mit Politikneulingen hat die Partei des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr die absolute Mehrheit im Parlament geholt. Die Ukrainer erhofften sich eine gründliche Erneuerung der Politik. Die Mehrheit der Ukrainer sagt mittlerweile, dass die neuen Abgeordneten kaum besser als die alten sind.

Mann vor Flagge
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Als vor einem Jahr die Partei des Ex-Komikers Wolodymyr Selenskyj die Parlamentswahlen gewann, sahen das viele Ukraine als große Chance. Lange hatten sie sich nach einer Veränderung gesehnt. Nachdem Selenskyj die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, konnte seine Partei "Diener des Volkes", die ausschließlich Kandidaten ohne Parlamentserfahrung aufstellte, bei der Parlamentswahl am 21. Juli 2019 überraschend die absolute Mehrheit gewinnen. Das hatte es in der Ukraine noch nicht gegeben. Überraschend war vor allem, dass selbst völlig unbekannte Personen ihre Direktwahlkreise gewannen, nur weil sie von Selenskyj unterstützt wurden.

Ukrainer vertrauen ihrem Parlament kaum noch

Eine solch radikale Erneuerung wird auch Probleme mit sich bringen, hatte Selenskyj selbst immer wieder betont. Es sei jedoch der einzige Weg gewesen, die erhoffte Wende zu schaffen und neue Generationen in die Politik zu integrieren. Aus der historischen Chance ist bisher aber nur wenig gemacht worden. Laut einer Umfrage des unabhängigen Meinungsinstituts "Rating Group" mit Sitz in der Ukraine vertrauen nur neun Prozent der Ukrainer ihrem Parlament, die von ihm aufgestellte Regierung schneidet mit acht Prozent noch schlechter ab.

Neue Regierung, neue Skandale

Ein Grund für diese Entwicklung sind die Skandale, die Abgeordnete der heutigen Regierungsfraktion nicht seltener als ihre Vorgänger produzieren. So haben sich etwa Fraktions- und Parteichef der "Diener des Volkes" über das Aussehen einer Parteikollegin vor laufenden Mikrofonen ausgelassen. Die Chefin des Sozialausschusses sprach sogar öffentlich von einer "Minderwertigkeit" von Kindern armer Ukrainer und plädierte für die Sterilisation von Antragstellern auf Sozialhilfe. Und das sind keine Einzelfälle. Bei einem Durchschnittsukrainer, der ohnehin das Parlament als Zirkus und die Politiker als Clowns abstempelt, erstickt die letzte Hoffnung im Keim.

Selenskyjs absolute Mehrheit nützt ihm wenig

Wichtiger ist jedoch, dass Selenskyjs absolute Mehrheit, die ihn eigentlich zum mächtigsten Präsidenten der Ukraine hätte machen sollen, ihm oft wenig nützt, um Reformvorhaben durchzusetzen. Dank der absoluten Mehrheit sind sicher einige Reformvorhaben gelungen. Als einer der letzten Staaten weltweit hat die Ukraine etwa ihren Bodenmarkt geöffnet, die Bodenreform ist allerdings unter den Ukrainern ungeliebt und wurde vor allem als Bedingung für einen neuen IWF-Kredit durchgesetzt. Was viele Ukrainer hingegen positiv aufgenommen haben, ist, dass die "Diener des Volkes" die strafrechtliche Immunität für Abgeordnete aufgehoben haben.

Einflussgruppen arbeiten gegeneinander

Doch neulich scheiterte das Parlament selbst daran, das Regierungsprogramm des im März angetretenen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal anzunehmen, weil mehrere Interessengruppen innerhalb der "Diener des Volkes" dagegen sind. Inzwischen haben sich innerhalb der Partei mehrere Gruppierungen gebildet. Die Konsequenz: Die "Diener des Volkes" ist bei der Durchsetzung von neuen Gesetzen sowohl auf die Unterstützung der prorussischen "Oppositionsplattform" als auch der "Europäischen Solidarität" des Selenskyj-Vorgängers Petro Poroschenko angewiesen – beides für Teile der Wählerschaft inakzeptabel. Das sorgt für zusätzliche Enttäuschung, zumal Selenskyj, der eine liberalere Geschichts-, Kultur- und Sprachenpolitik im Gegensatz zur patriotischen Agenda von Poroschenko anstrebte, diesbezüglich wenig bis gar nichts macht. Sein angekündigter Kurs gehörte aber zu den wichtigsten Gründen, die zu seiner Wahl führten.

Petro Poroschenko
Ex-Präsident Petro Poroschenko Bildrechte: imago images/ZUMA Wire

Wem dienen die "Diener des Volkes"?

Eine Weile mutmaßte man, dass Ihor Kolomojskyi, der die Fernsehshows, die Selenskyjs Firma produziert, ausstrahlt, im Hintergrund die Strippen zieht. Der Verdacht so mancher Wähler, dass Selenskyj unter dem Einfluss dieses Oligarchen stehe, hat sich indes nicht erhärtet. Er scheint spätestens widerlegt, seit die Partei die Rückgabe der 2016 verstaatlichten Privatbank, der größten Bank des Landes, an ihren früheren Eigentürmer Kolomojskyj vereitelt hat. Dank seiner gut 30 Befürworter unter den Abgeordneten der "Diener des Volkes" nimmt Ihor Kolomojskyj zwar Einfluss auf die Politik, er ist aber nicht der einzige.

Für viele Ukrainer scheint dennoch offensichtlich, dass sich die "Diener des Volkes" zunehmend in "Diener der Oligarchen" verwandeln. Seine erste reformorientierte Regierung wurde nach nur sechs Monaten aufgelöst. Einer der Gründe: Der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes auf fast sechs Prozent in den ersten fünf Monaten 2020. Der ist bei weitem nicht nur der Corona-Krise zuzuschreiben. Die Personalpolitik hat sich aber klar verändert. Der neue Ministerpräsident Schmyhal sowie die Interimsministerin für Energie haben etwa Verbindungen zum Energieimperium des reichsten Mannes der Ukraine, Rinat Achmetow. Sorgen macht man sich in Kiew auch deshalb, weil der vor kurzem zurückgetretene und als unabhängig geltende Chef der Nationalbank bei seinem Abgang von "politischem Druck" sprach.

Richtungsweisende Lokalwahlen im Herbst

Bei all dem Chaos, den innerparteilichen Intrigen und Skandalen haben die meisten Ukrainer das Gefühl, das große Parlamentsupdate habe doch nichts gebracht. Tatsächlich bleibe vieles beim Alten. Richtungsweisend werden nun die Lokalwahlen Ende Oktober sein, die zumindest teilweise zeigen werden, wie es um Selenskyj und die "Diener des Volkes" derzeit bestellt ist. Bei der Bürgermeisterwahl in Kiew hat die "Diener des Volkes" mit Iryna Wereschtschuk eine mäßig bekannte Parlamentsabgeordnete gegen den amtierenden Bürgermeister Vitali Klitschko aufgestellt. Sie gilt inzwischen als chancenlos. Vor einem Jahr konnten sich die Kandidaten der "Diener des Volkes" noch alle dreizehn Direktwahlkreise in der Hauptstadt sichern, obwohl sie oft gegen viel bekanntere Politiker antraten. Dies wird bei der jetzigen Wahl wohl nicht mehr möglich sein.

Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Radio | 17. Januar 2020 | 20:00 Uhr

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