Verhandlungsrunden Gespräche mit Russland: Das erwarten Ukrainer vom Westen
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07. Januar 2022, 16:58 Uhr
Am Donnerstag haben die außenpolitischen Berater der Regierungen Deutschlands und Frankreichs in Moskau mit ihrem russischen Kollegen gesprochen. Darauf folgen in Genf Gespräche zwischen Moskau und Washington über die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien. In der Ukraine zeigt man sich zunehmend besorgt, dass Kiew bei Verhandlungen über die Ukraine immer öfter nicht mit am Tisch sitzt.
Rund 122.000 russische Soldaten sollen sich aktuell nahe der russisch-ukrainischen Grenze befinden, so der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates Olexij Danylow. "Es ist eine unruhige, aber kontrollierbare Situation. Der Angriff Russlands kann nicht so plötzlich kommen, darauf müsste Moskau sich groß vorbereiten", versuchte er während eines Pressebriefings Ende Dezember zu beruhigen. Dennoch sind die Ukrainer besorgt – nicht nur über den russischen Truppenaufmarsch unmittelbar vor ihrer Grenze, sondern zunehmend auch über die diplomatische Antwort des Westens darauf. Denn bei den anstehenden Gesprächsrunden zwischen dem Westen und Russland wird auch über die Ukraine gesprochen – doch Ukrainer sitzen nicht mit am Tisch. Dabei haben sowohl ukrainische Politiker als auch Bürger klare Erwartungen an den Westen.
NATO-Beitritt ist Hauptziel, derzeit aber unrealistisch
Der Maximalwunsch der Ukraine ist mit Blick auf die besorgniserregende Lage an der Grenze zu Russland die NATO-Mitgliedschaft des Landes. Bereits Präsident Petro Poroschenko ließ ihn im Februar 2019 als strategisches Ziel in die Verfassung reinschreiben. Präsident Selenskyj ignorierte das Thema in den ersten Jahren seiner Amtszeit. Doch seit dem russischen Truppenaufmarsch im Frühjahr 2021, der eine Waffenruhe im Donbas endgültig zunichte zu machen scheint, spricht auch Selenskyj ständig von der NATO-Mitgliedschaft. Er sieht darin die einzige Möglichkeit, das Problem mit Russland dauerhaft zu lösen.
Ukraine fordert: Konkrete Sanktionen im Voraus benennen
Dden meisten Ukrainern ist allerdings klar, dass es dazu in absehbarer Zeit nicht kommen wird. Deshalb pocht Kiew auf eine andere Lösung: Der Westen solle sich konkret festlegen, welche Sanktionen gegen Russland wann greifen würden. "Der Ausschluss Russlands aus dem Finanztransaktionssystem SWIFT wäre am effektivsten", sagt Petro Oleschtschuk, Politologe an der Kiewer Schewtschenko-Universität. Das Problem momentan sei allerdings, dass es hier keinen Automatismus gebe, denn über diese Sanktion würde vermutlich erst im Nachgang entschieden, wenn Russland bereits angegriffen habe. Moskau könnte dieses Risiko also bewusst in Kauf nehmen, in der Hoffnung, dass die Strafmaßnahme am Ende doch ausbleibt. Aus diesem Grund müssten die Sanktionen schon im Vorfeld klar festgelegt werden, so Oleschtschuk.
Es ist enorm wichtig, schon im Vorfeld sehr deutlich zu machen, dass derart harte Sanktionen bei einem Angriff auf jeden Fall kommen werden. Und zwar auch dann, wenn es beispielweise nur einen kleinen Angriff auf einen konkreten Ort gibt.
Das ist eine Sichtweise, die auch die meisten Menschen auf der Straße in Kiew teilen. "Ich würde mir eine militärische Reaktion des Westens wünschen. Weil sie aber eher nicht in Frage kommt, hoffe ich im Ernstfall auf harte Wirtschaftssanktionen, also ein Embargo für Gas und Öl aus Russland sowie die Swift-Abschaltung", sagt Marketing-Fachmann Maxym Krawez. Auch Konditorin Darja Melnytschuk denkt ähnlich: "Der Preis für Russland muss sehr hoch sein und von Anfang an klar benannt sein, ohne das übliche Gerede, dass irgendwelche, nicht näher bezeichneten Sanktionen irgendwann vielleicht kommen würden." Momentan gibt der Westen tatsächlich nur vage Absichtserklärungen ab: So versprach US-Präsident Biden Selenskyj Anfang Januar zwar, dass die USA auf eine mögliche russische Invasion entschieden und mit harten Sanktionen reagieren würde – nannte aber keine konkreten Strafmaßnahmen.
Spitzenpolitikerin: Ukrainer müssen realistisch bleiben
Auch dass der Westen im Fall einer russischen Invasion militärisch nicht direkt eingreifen wird, ist der Kiewer Führung längst klar. "Wir müssen hier realistisch bleiben", sagte die stellvertretende Ministerpräsidentin Olha Stefanischyna in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Interfax Ukraine.
Klar ist: Andere Länder werden keine Soldaten in die Ukraine schicken, um hier zu kämpfen. Der diplomatische Weg ist die einzige Lösung, und der Druck des Westens bringt bereits erste Ergebnisse.
Gespräche über Ukraine ohne ukrainische Vertreter
Das offizielle Kiew betont zwar stets, dass die USA großen Wert darauf legen, nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg über die Ukraine zu verhandeln. Intern äußern sich ukrainische Spitzenpolitiker aber besorgt, denn es mehren sich inzwischen Anzeichen dafür, dass wichtige Entscheidungen ohne die Ukraine getroffen werden. So durfte Präsident Selenskyj im Vorfeld der vielbeachteten Biden-Putin-Videokonferenz nicht direkt mit seinem amerikanischen Amtskollegen telefonieren, sondern erst zwei Tage danach – zuvor durfte er sich nur mit US-Außenminister Antony Blinken austauschen.
Auch bei den jetzt beginnenden Gesprächsrunden sitzen die Ukrainer nicht mit am Tisch, obwohl es prominent auch um Kiew geht. Am 6. Januar verhandeln die Chefberater Deutschlands und Frankreichs mit dem russischen Ukraine-Beauftragten über den Krieg in der Ostukraine und am 10. Januar beginnen in Genf die Gespräche zwischen Russland und den USA zur russischen Forderung nach juristisch bindenden Sicherheitsgarantien des Westens, die eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausschließen würden. Die Sorge vieler Ukrainer, dass ohne sie über ihre Zukunft entschieden wird, scheint also berechtigt.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 08. Januar 2022 | 07:15 Uhr