Militär-Übung in der russischen Region Rostow
Ein Bild von Dezember 2021: Eine Militärübung in der russischen Region Rostow Bildrechte: imago images/SNA

Russische Truppen an ukrainischer Grenze Kiewer Experte: "Die schleichende russische Invasion läuft längst"

17. Dezember 2021, 13:26 Uhr

US-Medien hatten unlängst unter Berufung auf den US-Geheimdienst gemeldet, dass es Anfang 2022 zu einer russischen Offensive in der Ukraine kommen könnte. Wir haben den Kiewer Politologen Olexij Haran gefragt, ob er einen russischen Angriff für möglich hält, wie die ukrainische Bevölkerung über die derzeitige konfliktreiche Lage denkt und was passieren müsste, um eine militärische Eskalation zu verhindern.

Herr Haran, was spricht aus Ihrer Sicht momentan für eine Invasion Russlands und was dagegen?

Ganz auszuschließen ist eine Invasion nicht, sollten die Ukraine und der Westen zusammen deutliche Schwäche zeigen. Dagegen spricht aber, dass eine Invasion militärisch und wirtschaftlich für Russland sehr teuer wäre.

Landkarte zum Ukraine-Russland-Konflikt
In den rot markierten Gebieten wurden laut US-Geheimdienst und US-Militärexperten seit Frühjahr 2021 schrittweise russische Truppen zusammengezogen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Was ist Ihrer Meinung nach nun wahrscheinlicher?

Eine sogenannte schleichende russische Invasion, die längst läuft. Sie ist die bessere Option für Kremlchef Wladimir Putin. Wir erleben neben der faktischen Annexion der von Russland kontrollierten Separatistenrepubliken im Donbass, dass Russland 70 Prozent der Gewässer des Asowschen Meeres, das es mit der Ukraine teilt, für sich beansprucht, dort Manöver veranstaltet und weder die Ukrainer noch andere Staaten hineinlässt.

Auch ist im Vergleich zu einer Invasion viel wahrscheinlicher, dass der Kremlchef durch einen gezielten Angriff eine für ihn wichtige ukrainische Stadt besetzen könnte. Doch auch dieses Ziel würde Putin nicht verfolgen, wüsste er, dass in diesem Fall harte Sanktionen gegen Russland folgen würden. Doch ob diese Sanktionen wirklich folgen, ist für uns Ukrainer fraglich.


Welches Ziel verfolgt Russland mit dem gegenwärtigen Truppenaufmarsch?

Moskau mischt derzeit an sehr vielen Fronten mit: Es will sowohl Druck auf die Ukraine als auch energetischen Druck auf den Westen ausüben. Es mischt bei der Migrationskrise zwischen Polen und Belarus mit, es will die immer stärkere Anbindung von Belarus an den Kreml. Doch vor allem will Moskau die Ukraine und den Westen schwächen und gleichzeitig Misstrauen schüren, ob der Westen die von ihm versprochenen Sicherheitsgarantien für seine Verbündeten tatsächlich gewährleisten kann.

Zudem will sich Putin mit dem Truppenaufzug eine bessere Verhandlungsposition gegenüber dem Westen verschaffen. Das hat der Kremlchef im Frühjahr mit einem ähnlichen Truppenaufmarsch bereits schon einmal geschafft. Damals haben sich Deutschland und die USA bei der Gaspipeline Nord Stream 2 geeinigt, die in diesem Jahr auch zu Ende gebaut wurde. Um Ähnliches könnte es jetzt auch gehen.

Ukrainischer Politikexperte Olexij Haran
Bildrechte: Olexij Haran

Zur Person Olexij Haran, Jahrgang 1959. Der Politologe und Historiker arbeitet an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie in Kiew. Er gilt im Land als einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Beziehungen der Ukraine mit der EU und Russland.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Gaspipeline Nord Stream 2 beim aktuellen Szenario?

Nord Stream 2 ist von Anfang an eine politische Waffe gewesen. Putin will damit Druck auf Kiew ausüben. Solange die Gaspipeline nicht in Betrieb genommen ist und der Transport weiter über die Ukraine erfolgen muss, ist das Risiko, dass Russland militärisch gegen die Ukraine vorgeht, auch entsprechend kleiner. Akzeptiert der Westen diese Pipeline, bringt er die Ukraine zusätzlich in Gefahr.

Wie lange könnte die Ukraine einem russischen Angriff standhalten?

Die ukrainische Armee ist inzwischen sehr viel stärker geworden als beim ersten militärischen Konflikt 2014. Russland ist der Ukraine militärisch aber weiter deutlich überlegen. In einer Zeit, in der Russland faktisch die Straße von Kertsch – die Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer – blockiert und die ukrainische Marine nicht einmal seine Schiffe aus dem Schwarzen Meer ins Asowsche Meer verlegen kann, ist für mich unverständlich, dass sich Deutschland gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht.

Zur Lage an der ukrainisch-russischen Grenze US-Medien hatten Anfang Dezember unter Berufung auf US-Geheimdienste berichtet, dass Anfang 2022 eine russische Offensive in der Ukraine möglich sei.

Das ukrainische Verteidigungsministerium geht derzeit davon aus, dass Russland in den vergangenen Wochen bis zu 94.000 Militärangehörige in Grenznähe stationiert hat. Die USA und die G7-Staaten hatten Russland zuletzt mit Sanktionen gedroht, sollte es zu einem Angriff kommen.

Wie sieht die ukrainische Bevölkerung eine mögliche Invasion?

Es wird hin und wieder angenommen, dass die Ukrainer jetzt in Panik geraten und nicht wissen, was sie tun sollen. Das ist nicht der Fall. Ja, das Thema besorgt uns, aber es gibt keine Hysterie in der Gesellschaft. Die Ukrainer haben längst ihre Illusionen bezüglich Russland verloren, das bis 2014 überwiegend positiv wahrgenommen worden war. Unseren Studien zufolge glauben inzwischen mehr als 70 Prozent der Ukrainer, dass es sich beim Donbass-Krieg um einen Krieg Russlands gegen die Ukraine handelt.

Was müsste passieren, um eine weitere Eskalation zu vermeiden?

Wenn Putin mit ernsthaften Sanktionen seitens des Westens rechnen müsste, würde er nicht weitergehen. Aber wir erleben seit 2014 eine schleichende russische Invasion in der Ukraine: Wir schätzen die westliche Unterstützung sehr und der Westen ist auch nicht mehr so naiv wie das 2014 noch der Fall war. Doch er muss konkret sagen, mit welchen Sanktionen er reagieren wird, sollte Putin weitermachen.

Das Gespräch hat unser Ostblogger Denis Trubetskoy geführt.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 16. Dezember 2021 | 11:00 Uhr

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Ein russischer Soldat feuert aus einer Haubitze auf eine ukrainische Stellung im russisch-ukrainischen Grenzgebiet in der Region Kursk, Russland. Bildrechte: picture alliance/dpa/Rusian Defense Ministry Press Service | Uncredited