Medien im Krieg Ukraine: "Telegram" statt TV-Nachrichten
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01. Februar 2024, 22:37 Uhr
Ukrainische Journalisten recherchieren auch mitten im russischen Angriffskrieg zu Korruption. Eine Arbeit, für die sie mitunter persönlich angegriffen werden. Oft spielt dabei der Messengerdienst Telegram eine Rolle. Überhaupt wächst die Bedeutung von Telegram als Nachrichtenquelle sehr stark. Das liegt auch daran, dass die im Krieg etablierten Dauernachrichten im Fernsehen immer mehr das Vertrauen der Zuschauer verlieren.
Die Berichterstattung der unabhängigen ukrainischen Medien ist trotz Einschränkungen durch das Kriegsrecht durchaus kritisch geblieben. Und auch wirksam: So hat eine Reihe von Recherchen über korrupte Politiker und Beamte im letzten Jahr zu wichtigen Personalveränderungen in staatlichen Spitzenpositionen geführt. Sehr prominent etwa im Verteidigungsministerium, wo im September vorigen Jahres der Minister und fast alle seine Stellvertreter ausgetauscht wurden. Seitdem sind deutliche Verbesserungen in Sachen Transparenz zu beobachten. Das unterstreicht auch der bekannte Investigativjournalist Jurij Nikolow vom Projekt "Naschi Hroschi" ("Unser Geld"), der im Januar 2023 ein korruptes Netzwerk im Verteidigungsministerium aufdeckte.
Trotzdem leben Journalisten wie Nikolow weiterhin gefährlich. Am 15. Januar haben maskierte Personen in Militäruniform versucht, in seine Wohnung einzudringen, während Nikolow nicht zu Hause war. Die Angreifer haben schließlich Zettel mit Beleidigungen an seiner Wohnungstür angebracht, sich selbst dabei gefilmt und das Video auf Telegram in Umlauf gebracht.
Kurz darauf wurde auch das investigative Medienprojekt Bihus.Info online diskreditiert. Von einer anonymen Internetseite aus verbreitete sich ein Video, auf dem zwei Kameramänner von Bihus.Info dabei zu sehen sind, wie sie in einem Hotel nahe Kiew Drogen konsumieren. Ebenfalls im Video: Vermeintliche Mitschnitte von Telefonaten der Kameramänner, in denen zu hören ist, wie sie Drogen bestellen.
Behörden untersuchen Angriffe auf Journalisten
Beide Fälle werden als Angriffe auf kritischen Journalismus verstanden und haben für große gesellschaftliche Resonanz gesorgt. Präsident Wolodymyr Selenskyj betonte sogleich in einer seiner Abendansprachen, dass jeglicher Druck auf Journalisten inakzeptabel sei. Im Fall Nikolow scheint die Polizei die beteiligten Angreifer bereits identifiziert zu haben, die offenbar trotz der Uniformen keine Militärangehörigen sind. Dass sie aus eigener Überzeugung in die Wohnung des Journalisten eingedrungen sind, gilt als eher unwahrscheinlich, wichtiger ist wohl, den Auftraggeber zu identifizieren.
Im Fall der Bihus.Info-Mitarbeiter war es der Sicherheitsdienst SBU, der ukrainische Inlandsgeheimdienst, der eine Untersuchung eingeleitet hat. Deren Ergebnisse dürften richtungsweisend sein: Denn obwohl der SBU die Telefonate der beiden nicht selbst mitgeschnitten haben muss, können im ukrainischen Mobilfunknetz ohne die SBU-Infrastruktur rein technisch keine Telefonate abgehört werden. "Herauszufinden, wer dahintersteckt, dürfte relativ leicht sein", betont der erfahrene ukrainische Journalist Oleksandr Martynenko, Direktor der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine, im Radiosender NV. "Falls sich die Untersuchung monatelang hinziehen sollte, können wir ziemlich sicher davon ausgehen, dass irgendein Beamter in dem Fall etwas vertuschen möchte."
Breites Interesse an Korruptionsrecherchen
Vorerst gibt sich die ukrainische Mediencommunity mit der staatlichen Reaktion auf die Vorfälle zufrieden, auch wenn noch nicht klar ist, wohin die eingeleiteten Ermittlungen wirklich führen werden. Was allerdings darüber hinaus besorgniserregend ist: Beide Fälle wurden von anonymen Kanälen auf dem Messengerdienst Telegram bejubelt, die mit dubiosen PR-Spezialisten in Verbindung gebracht werden, welche angeblich dem Kommunikationsteam des Präsidentenbüros nahestehen sollen.
"Ich denke nicht, dass der Präsident selbst für so etwas Zeit hat, das ist ziemlich ausgeschlossen", so Martynenko. "Aber diejenigen, gegen die sich bereits veröffentlichte oder im Gange befindliche Recherchen richten, könnten durchaus hinter den Vorfällen stecken." Sie hätten aber offenbar vergessen, dass sie in einem demokratischen Land lebten, fährt er fort. Und sicher würden die Menschen nicht gutheißen, wenn Journalisten Drogen konsumierten. "Illegal Telefonate abzuhören ist aber noch schlimmer", bekräftigt der Chef der Nachrichtenagentur. Beobachtet man die Reaktionen, dann wurde das auch von breiten Teilen der ukrainischen Gesellschaft genauso wahrgenommen. Manchem Amtsinhaber dürften investigative Medien also auch im Krieg weiterhin ein Dorn im Auge sein.
Verordnete Dauernachrichten im Krieg
Insgesamt hat der russische Angriffskrieg die ukrainische Medienlandschaft massiv verändert. Vor dem 24. Februar 2022 war sie vor allem von unzähligen Oligarchenmedien mit unterschiedlichster politischer Agenda geprägt. Am deutlichsten zeigt sich der Wandel beim Fernsehen, wo früher große Vielfalt herrschte. Auch fast zwei Jahre nach dem russischen Überfall müssen Informationssender das gemeinsame 24-Stunden-Programm "Vereinigte Nachrichten" übertragen, das umgangssprachlich als "Telemarathon" bezeichnet wird.
Das direkt nach dem 24. Februar 2022 entstandene Dauerprogramm hatte nach Einschätzung vieler Beobachter gerade am Anfang seine Berechtigung. Damit gelang es, der verunsicherten Bevölkerung einen Überblick über die schnell wechselnde Kriegslage zu geben. Auch während der massiven russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur wie im Winter 2022/23 blieb der "Telemarathon" einer der wenigen Wege, um sich überhaupt zu informieren. Und genau für solche Situationen finden ihn viele im Krieg auch enorm wichtig.
Zuschauer wenden sich von "Telemarathon" ab
Doch schon früh wurde auch Kritik am "Telemarathon" laut. Die schlägt sich auch im Zuschauerverhalten nieder. Mit der Zeit sank laut Studien des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts das Vertrauen des Publikums in die Dauernachrichten – von 69 Prozent im Mai 2022 auf 43 Prozent im Dezember 2023. Einer der Gründe dafür liegt in dem oft realitätsfernen Blick auf die aktuelle Lage sowie im Verschweigen von Problemen.
Grundsätzlich hält auch Jaroslaw Jyrtschyschyn, Chef des Parlamentsausschusses für Meinungsfreiheit von der Oppositionspartei "Stimme", den "Telemarathon" für sinnvoll. "Wenn wir aber jetzt nicht Wege finden, um ihn zu verbessern, wird er sich von alleine erledigen und das Jahr 2024 wohl kaum überleben", so Jyrtschyschyn in ukrainischen Medien. Als Alternative zum 24-Stunden-Format sind beispielsweise von den Sendern gemeinsam produzierte kürzere Nachrichtenblöcke im Gespräch.
Zweischneidige Informationsquelle: Telegram
Die Tatsache, dass immer mehr Menschen den "Telemarathon" nicht mehr einschalten, verstärkt darüber hinaus zwei Tendenzen, die es in der ukrainischen Medienlandschaft auch vor der russischen Großinvasion schon gab: Die erste ist der Aufstieg von Telegram zur wichtigsten Informationsquelle. Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten ukrainischen Meinungsforschungsinstituts Rating Group informieren sich 46 Prozent der Ukrainer hauptsächlich über Telegram. Beim "Telemarathon" liegt dieser Wert nur noch bei 25 Prozent. Diese Entwicklung macht den ukrainischen Medienwissenschaftlern nicht grundlos Sorgen. Denn auf Telegram dominieren nicht etwa die Accounts der klassischen Medien, sondern vor allem anonyme Kanäle, die reichlich ungeprüfte Nachrichten und gar gezielte Desinformation verbreiten. Im Krieg ist das noch gefährlicher als sonst.
Unabhängige Medien: Online erfolgreich
Andererseits ist aber auch der große Aufschwung der seriösen unabhängigen Medien zu beobachten. Sie glänzen nicht nur regelmäßig mit aufsehenerregenden Antikorruptionsrecherchen, sondern haben auch einige beliebte Podcast- und Youtube-Formate entwickelt. Neben dem Krieg geht es dort vor allem um Innenpolitik. Aber auch das Interesse an Außenpolitik ist im Vergleich zur Zeit vor dem 24. Februar 2022 stark gestiegen, nicht zuletzt wegen der Abhängigkeit des Landes von westlichen Hilfen. So sind die in der Ukraine sehr beliebten politischen Talkshows vom Fernsehen praktisch ins Internet gewandert und dort auch sehr erfolgreich. Stellenweise sehen diese Talkformate kaum anders aus als vor der russischen Großinvasion. Und das heißt auch, dass die Vertreter der Regierungspartei "Diener des Volkes" in den Talkshows durchaus hier und da eine "kalte Dusche" bekommen.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 29. Januar 2024 | 09:10 Uhr