Ukrainekrieg Mobilmachung in der Ukraine: Pflichtbewusstsein und Korruption
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17. September 2023, 09:58 Uhr
Beim Wettlauf um die Mobilmachung im Abwehrkrieg gegen Russland kann die Ukraine trotz kleinerer Bevölkerungszahl mithalten. Nach mehr als 18 Monaten des Angriffskrieges trifft die Einberufung aber immer öfter ukrainische Männer ohne militärischen Hintergrund. Während die Regierung in Kiew mit aller Härte gegen Korruption in Rekrutierungsbüros vorgeht, steigt bei den Männern die Angst, selbst an die Front zu müssen. Die wird aber meist nicht offen ausgesprochen.
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Rund 70.000 ukrainische Soldaten sollen bisher im Abwehrkrieg gegen Russland gestorben sein, die Zahl der Verwundeten soll bei bis zu 120.000 liegen. Das berichtete die New York Times unlängst unter Berufung auf Schätzungen des US-Militärs. Das offizielle Kiew bestreitet diese Statistiken und gibt über eigene Verluste generell keine Auskunft, unabhängig lassen sich diese Zahlen nicht überprüfen. Diesen US-amerikanischen Schätzungen zufolge scheinen die ukrainischen Verluste kleiner als die der Russen zu sein. Die russische Armee und verbündete Kampfverbände hätten rund 120.000 Soldaten verloren, zwischen 170.000 und 180.000 wurden verletzt. Selbst bei der aktuellen Gegenoffensive der Ukrainer dürften die Verluste am hart umkämpften südlichen Frontabschnitt grob bei 1:1 liegen, was eher untypisch ist – die Verluste der verteidigenden Seite sind normalerweise bedeutend kleiner.
Trotzdem: Während die Ukraine theoretisch noch sieben bis acht Millionen Menschen im wehrpflichtigen Alter an die Waffen rufen kann, ist das Mobilisierungspotenzial Russlands rund dreimal so hoch. Das bedeutet aber nicht, dass Moskau in der Lage wäre, binnen kürzester Zeit eine Million Menschen oder gar mehr unter Waffen zu stellen. Dafür fehlt es an Ausbildungsoffizieren, Ausstattung und weiterer Infrastruktur. Derzeit muss die Ukraine jährlich zwischen 300.000 und 400.000 Menschen mobilisieren, um mit den Russen personell auf Augenhöhe zu bleiben. Das kann sie lange durchhalten.
Adressenchaos in den Rekrutierungsbüros
Fakt ist jedoch auch: Sollte der Krieg noch Jahre dauern, was derzeit wahrscheinlich erscheint, hätte Russland mit seiner größeren Bevölkerungszahl einen wichtigen Vorteil. Es ist zwar nur ein Baustein im Gesamtbild dieses Krieges, aber ein wichtiger. Um im Kampf gegen Russland langfristig zu bestehen, muss die Ukraine daher ihr Mobilmachungssystem optimieren – und trifft dabei unvermeidlich auf einige Schwierigkeiten.
Das mit Abstand größte Problem: Viele Männer sind für die Rekrutierungsbüros quasi unsichtbar, weil ihre Adressen unbekannt sind. Vor dem Angriff auf das gesamte Land mussten die Männer die Änderungen ihres Wohnsitzes beim Einberufungsamt nicht unbedingt melden, viele haben nicht unter der Adresse gewohnt, die dem Rekrutierungsbüro bekannt war. Nach dem 24. Februar 2022 kamen Millionen Binnenflüchtlinge hinzu, deren Aufenthaltsort entweder unbekannt ist oder oft wechselt – oder beides. Gelöst werden soll das Problem durch ein elektronisches Register der Wehrpflichtigen, das noch in diesem Jahr in Betrieb gehen soll. Vorerst werden aber die Vorladungen zur sogenannten Datenaktualisierung oft schlicht auf der Straße ausgehängt. Dabei geht es nicht um eine sofortige Einberufung, sondern darum, dass das Einberufungsamt für den Fall der Fälle informiert ist, wo sich die konkrete Person aufhält.
Der Umgang mit der Angst
Außerdem versucht das ukrainische Verteidigungsministerium, mit Hilfe einer allgegenwärtigen PR-Kampagne Männer dazu zu bewegen, freiwillig beim Rekrutierungsbüro ihre Daten zu hinterlegen. Die Kampagne heißt "Mut besiegt Angst". Darin geben erfahrene ukrainische Militärs ihre Ängste offen zu, um andere Männer ebenfalls zu einem offenen Umgang mit diesen zu motivieren. "Alle haben im Krieg ihre Ängste, auch ich", steht etwa auf einem der Plakate, auf dem ein Soldat zu sehen ist, der Bachmut länger als 100 Tage verteidigte.
Die Angst vor der Mobilmachung ist tatsächlich etwas, was heute deutlicher als zuvor zu spüren ist – auch wenn sie selten direkt angesprochen wird. Nach dem 24. Februar 2022 wurden an der Front vor allem Menschen eingesetzt, die in den Jahren zuvor im Donbass gekämpft hatten – die sogenannte operative Reserve. Freiwillige ohne militärischen Hintergrund wurden meist entweder gleich oder nach kurzer Zeit zurückgeschickt, nachdem die Russen ihre Truppen aus den Vorstädten von Kiew abgezogen hatten. Doch inzwischen trifft die Mobilmachung auch Menschen ohne jegliche Militärerfahrung, denn die Ukraine muss ihre Verluste ausgleichen.
"Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst vor der Mobilmachung habe", sagt etwa der junge Programmierer Kyrylo, Mitte 20, der einst schon aus Donezk fliehen musste. "Ich habe nicht vor, den Dienst zu verweigern, falls ich ein Einberufungsschreiben bekomme." Aber: "Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand will an die Front. Es gibt aber Sachen, die man einfach machen muss, weil man sie eben machen muss."
Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand will an die Front. Es gibt aber Sachen, die man einfach machen muss, weil man sie eben machen muss.
Der 41-jährige Anton (Name geändert), der in Kiew für ein Logistikunternehmen arbeitet, weiß dagegen noch nicht, was er tun würde, sollte er dran sein. "Ich will nicht wie ein Feigling wegrennen, das sicher nicht. Und ich schulde meinem Land einiges: Wir haben vor dem Krieg viel über den Staat geschimpft, sehen aber nun, wie gut er im Krieg funktioniert", betont er. "Aber ich kann überhaupt noch nicht sagen, wie ich denn reagieren würde."
Kampf gegen Korruption
Die gefühlte Mehrheit der Männer will wie Programmierer Kyrylo im Falle des Falles ihre Pflicht tun. Trotzdem gibt es in jeder großen Stadt Telegram-Gruppen, auf denen sich Männer gegenseitig informieren, wo die Mitarbeiter der Rekrutierungsbüros unterwegs sein könnten.
Auch der Freikauf vom Dienst spielt in der öffentlichen Debatte eine Rolle: So wurde der Chef des Einberufungsamtes von Odessa verhaftet, weil er Bestechungsgelder in Höhe von insgesamt etwa 4,6 Millionen Euro akzeptiert hatte. Nach seiner Festnahme ordnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Überprüfung aller Rekrutierungsbüros an. Schon ihr provisorisches Ergebnis führte zur Entlassung aller Chefs der Einberufungsämter, die nun durch Soldaten mit praktischer Erfahrung ersetzt werden sollen, die aus medizinischen Gründen nicht mehr kämpfen können.
Außerdem deutete Selenskyj an, dass Korruption für die Dauer des Kriegsrechts rechtlich mit Hochverrat gleichgesetzt werden könnte. Wie das genau aussehen soll und ob es überhaupt dazu kommt, ist allerdings unklar. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde noch nicht eingereicht und jüngsten ukrainischen Medienberichten zufolge könnte die Idee vorerst auf Eis gelegt werden.
Während grundlegende Reformen in Zeiten des laufenden Krieges schwierig sind, könnten diese Maßnahmen die Effektivität des Einberufungssystems etwas verbessern. Der Lwiwer Militäranalyst Stanislaw Besuschko, der selbst an der Front kämpft, bleibt jedoch skeptisch. "Der Leiter des Rekrutierungsbüros fälscht Dokumente ja nicht selbst. Da helfen seine Untergeordneten fleißig mit. Der bloße Wechsel an der Spitze kann keine wesentlichen Veränderungen bringen", betont er.
Ein Massenphänomen ist der Freikauf vom Dienst aber nicht – dazu ist er zu teuer. Wegen des hohen Risikos für beide Seiten liegen die Schmiergeldzahlungen bei bekannten Fällen durchschnittlich zwischen umgerechnet 7.000 und 9.000 Euro. Das kann sich bei weitem nicht jeder leisten. Doch wer viel riskiert, bekommt auch viel, wie der Fall des Ex-Chefs des Einberufungsamtes von Odessa zeigt – zumindest, bis es auffliegt und das ganze Land über den Fall diskutiert.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 16. September 2023 | 07:17 Uhr