Baltikum Ukraine-Krieg: Litauens Botschaften an Putin
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14. April 2022, 11:49 Uhr
Die Menschen in Litauen haben schlechte Erfahrungen mit Russland. Sie lebten unter der Knute des Zaren und wurden später von Sowjetrussland unterdrückt. Kein Wunder also, dass man im Baltikum voller Sorge auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine schaut. Voller Sorge, aber nicht ängstlich. Im Gegenteil: man bezieht klar Stellung, und das auf ebenso eindeutige wie kreative Art und Weise.
Jeden Morgen um 9:23 Uhr fährt in den Hauptbahnhof der litauischen Hauptstadt Vilnius ein Zug ein und bleibt für wenige Minuten stehen. Aus- oder Zusteigen darf jedoch niemand, ohnehin hält der Zug auf einem Gleis, das durch einen Zaun vom Rest des Bahnhofs getrennt ist. Dieser Zug verkehrt zwischen Moskau und der russischen Exklave Kaliningrad. Trotz der Sanktionen gegen Russland muss Litauen ihn passieren lassen, erklärt der Sprecher der litauischen Bahn, Mantas Dubauskas. "Es gibt dazu internationale Abkommen, die den Transit zwischen der russischen Exklave und dem übrigen Russland regeln."
Kriegsbilder für russische Transitreisende
Am Gleis, wo der Zug aus Moskau steht, tönt eine Durchsage auf Russisch aus den Lautsprechern. Sie gibt nicht etwa die kommenden Zugverbindungen durch, sondern fordert die Passagiere auf, aus den Fenster zu schauen. Denn am Zaun neben dem Gleis wird eine ganz spezielle "Fotoausstellung" präsentiert. Sie zeigt Bilder von der Zerstörung in der Ukraine. Einer der Initiatoren ist der Fotojournalist Jonas Staselis. "Die Idee ist es, den russischen Passagieren die wahren Konsequenzen des Krieges in der Ukraine zu zeigen", sagt Staselis. Denn die russische Propaganda spreche nur von einer 'militärischen Operation', nicht von Krieg, und Russland verbiete Facebook und die sozialen Medien. "Uns bleibt nichts anderes, als den Russen hier am Gleis auf großen Fotos zu zeigen, was vor sich geht." Bilder von Verletzten und Leichen inklusive.
Diese Aufklärungskampagne für russische Transitpassagiere reiht sich in zahlreiche kreative Solidaritätsbekundungen der Litauer gegenüber der Ukraine ein. Ende Februar demonstrierten die Menschen in Vilnius massenweise, um sich hinter die Ukraine zu stellen.
Als weitere Geste der Solidarität wurde die Straße an der russischen Botschaft in "Straße der ukrainischen Helden" umbenannt, und der liberale Bürgermeister der Stadt Remigijus Šimašius griff selbst zur Spraydose und sprühte eine eindeutige Botschaft auf den Vorplatz der russischen Botschaft: "Putin, den Haag wartet schon". Eine Anspielung auf das UN-Kriegsverbrechertribunal. Ein riesiges Transparent mit derselben Parole hängt nun auch am Rathaus und ist in ganz Vilnius zu sehen.
Historisch gewachsenes Misstrauen gegenüber Russland
Die Solidarität des baltischen Landes mit der Ukraine sei historisch begründet, sagt Andrzej Pukszto, der an der Universität Kaunas Politikwissenschaft unterrichtet. Die Spannungen mit Moskau reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, als das Baltikum vom zaristischen Russland erobert wurde. In jener Zeit wurden die Universitäten geschlossen, litauischer Buchdruck war verboten. Nach dem Ersten Weltkrieg war Litauen unabhängig, doch dann wurde das Baltikum im Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion besetzt. "Die 50- und 60-Jährigen erinnern sich noch an die sowjetische Zeit. Und noch Ältere an die Deportationen nach Sibirien", sagt Pukszto. So wurden 1941 50.000 Menschen aus dem kleinen Litauen nach Sibirien deportiert und nach 1944 folgten weitere Drangsalierungen. "Die Angst vor Russland bleibt in der Erinnerung der Litauer."
Moskau ließ außerdem hunderttausende russischsprachige Menschen aus der gesamten Sowjetunion als Industriearbeiter in allen drei baltischen Republiken ansiedeln, was den Anteil der ethnischen Esten, Letten und Litauer an der Bevölkerung dezimierte. Noch heute gehört ein Viertel bis ein Drittel der Einwohner von Estland und Lettland der russischsprachigen Minderheit an. Ängste, dass Putin seine sogenannten Landsleute "heimholen" wolle, indem er Teile Estlands oder Lettlands besetzt, kamen bereits im Zuge der Krim-Annexion besonders in Tallinn und Riga auf.
Vertrackte geografische Lage Litauens
In Litauen ist nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1990 die Zahl der ethnischen Russen auf nur fünf Prozent geschrumpft. Dennoch könnte Litauen wegen seiner geografischen Lage Begehrlichkeiten in Moskau auslösen, glaubt Vaidotas Beniušis, Chefredakteur der Online-Zeitung "15 Minuten". Russland könnte auf den Suwalki-Korridor schielen, also jene Grenze zwischen Litauen und Polen, die die einzige Landverbindung der baltischen Staaten mit den übrigen NATO-Ländern darstellt. Zugleich trennt der Suwalki-Korridor die russische Exklave Kaliningrad von Belarus, das stark unter dem Einfluss Moskaus steht. "Auch Nicht-Militärexperten erkennen, dass wir an einem neuralgischen Punkt liegen", sagt Beniušis.
Doch Litauen ist NATO-Territorium und so verstärkte das Militärbündnis nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar seine Kampfeinheiten in den drei baltischen Staaten: Laut Angaben des Militärbündnisses sind es nun in Estland 2.000 NATO-Soldatinnen und Soldaten, in Lettland 1.700 und in Litauen 4.000, unter anderem von der Bundeswehr.
Hinzu kommen die einheimischen Streitkräfte. Und diese könnten im Angriffsfall – zumindest im Falle Litauens – auf die Unterstützung der eigenen Bevölkerung zählen. Einer Umfrage des Instituts Norstat LT zufolge würde die Hälfte der Litauer im Falle einer russischen Aggression freiwillig zu den Waffen greifen, unter den wehrfähigen Männern wären es fast 70 Prozent. Doch obwohl Litauen NATO-Mitglied ist, herrscht im gesamten Baltikum eine latente Angst vor einem militärischen Angriff Moskaus, gerade angesichts russischer Hackerangriffe und Desinformationskampagnen.
Dafür zu sorgen, dass es so weit nicht kommt, ist auch Aufgabe der Diplomatie. Allerdings ist etwa Vilnius wenig gesprächsbereit gegenüber Moskau; nur zwei Staatschefs sind jemals nach Russland gefahren. Und Anfang April hat Litauen gar den russischen Botschafter in Vilnius vor die Tür gesetzt und den eigenen diplomatischen Vertreter aus Moskau abgezogen. Lehnt sich das kleine 3-Millionen-Einwohner-Land damit zu sehr aus dem Fenster angesichts des 144-Millionen-Einwohner zählenden Russland in der Nachbarschaft? Politikwissenschaftler Pukszto spricht von einem "Dilemma": Einerseits wolle man wachsam bleiben und andererseits konsequent Stellung gegen die russische Aggression beziehen.
Litauen jetzt unabhängig von russischem Gas
Konsequenz bewies Vilnius dieser Tage erneut: Während ganz Europa ein Energieembargo diskutiert, twitterte der litauische Staatschef Gitanas Nausėda kürzlich, dass sein Land seit Anfang April kein russisches Gas mehr beziehe. Das Land hat schon 2014 ein LNG-Terminal für Gaslieferungen aus Norwegen und den USA eröffnet, das damals höchst umstritten, da kostspielig, war, während russisches Gas eine billige Energieressource darstellte. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gab den Balten allerdings Recht. Da, wo Litauen kann, ist es konsequent. An anderen Punkten muss es allerdings Zugeständnisse machen: So wird russisches Gas weiterhin auf dem Weg in die russische Exklave Kaliningrad durch Litauen fließen. Und auch die Personenzüge zwischen Moskau und Kaliningrad rollen weiterhin. Trotz der Sanktionen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 05. Februar 2022 | 11:13 Uhr