Blick auf den Ort Kaunas
Kaunas: Zweitgrößte Stadt Litauens und europäische Kulturhaupstadt 2022 Bildrechte: IMAGO / agefotostock

Litauen Kulturhauptstadt Kaunas: Graffiti ganz groß

22. Januar 2022, 09:02 Uhr

Partys in ehemaligen Munitionsbunkern, Live-Konzerte inmitten von Plattenbausiedlungen und Street-Art allerorten: Kaunas ist neben Esch in Luxemburg und Novi Sad in Serbien 2022 Kulturhauptstadt Europas und fokussiert sich – anders als Kulturhauptstädte zuvor – auf seine eigenen Bürger. Alle drei "Metropolen" sind "Second Cities": Die zweitgrößten Städte des Landes und irgendwie auch immer im Schatten der Hauptstädte. Wobei sich das in Sachen Kunst und Kultur in diesem Jahr ändern soll. Allein Kaunas plant Hunderte Events, darunter 40 Festivals, 60 Ausstellungen und über 250 Konzerte und anderweitige kulturelle Veranstaltungen. Wobei ein großer Teil der Kultur draußen auf der Straße stattfindet und nicht immer an einen Termin gekoppelt ist.

Porträt Markus Nowak
Bildrechte: Markus Nowak/MDR

Illustre Portraits hängen an den Wänden, bemalte Stühle stehen herum, wie auch kleine knubblige Wesen. In der Garage von Aistė Ramūnaitė in Žaliakalnis, einem Stadtteil der litauischen Stadt Kaunas, hat lange kein Auto mehr geparkt. "Diese kleinen Kreaturen sind Gnome, sie sind Märchenwesen, haben aber auch etwas Wahres an sich", setzt Ramūnaitė an, die mit ihrem Overall aus Samt und dem starken Makeup gut in jenes Fabel-Setting passt. "Wir hier in Litauen haben solche Wesen. Und wenn ich mich mit anderen Menschen treffe, dann sprechen wir darüber." Zusammen mit den Menschen aus der Nachbarschaft macht sie Kunst, etwa bei Plain-Airs oder stellt Fabelwesen-Kostüme her.

Kultur in den Stadtteilen

Im Rahmen des neu ins Leben gerufenen "Labas Fluxus"-Festivals besteigen sie dann verkleidet den Žaliakalnis-Hügel. "Labas" bedeutet "Hallo" und Fluxus ist eine der weltweit einflussreichsten Kunstrichtung, bei der nicht das Kunstwerk im Fokus steht, sondern der Prozess. Begründet von dem US-Künstler George Maciunas – oder Jurgis Mačiūnas, denn er wurde vor dem Zweiten Weltkrieg in Kaunas geboren. John Lennons Witwe Yoko Ono ist eine der bekanntesten Vertreterinnen. "Uns geht es darum, die Kultur näher zu den Menschen zu bringen", sagt Aistė Paukštė, Co-Organisatorin des Fluxus-Festivals. "Kultur soll nicht nur im Stadtzentrum, sondern auch in den Stadtteilen stattfinden." Und: Sie solle nicht nur von oben herab passieren, sondern ein gemeinsamer Prozess mit den Bürgern und Nachbarn sei. "Die Ergebnisse sind dann oft unerwartet."

Graffiti-Malerein in Kaunas

Überall in Kaunas trifft man auf Graffiti, die mehr als "wildes Gesprühe" von Hip-Hop- oder Graffiti-Sprayern sind. Vielmehr sind es großflächige Malerein an den Fassaden und Mauern, die die teils auch graue Stadt etwas bunter machen. "Seit einigen Jahren explodiert die Zahl an Graffiti", sagt Tadas Vincaitis-Plūgas, der gerade die Fassade eines Universitätsgebäudes "besprüht". Zu den ersten Graffiti hat ihn ein Besuch in Deutschland inspiriert, noch zu Sowjetzeiten Ende der 1980er-Jahre. Damals habe er selbst auch noch viel eigene Street-Art gemacht – also das nicht immer legale Sprayen. Heute sind es große Auftragsarbeiten, die dann aber nicht immer eine politische Note haben.

Die wechselvolle Geschichte von Kaunas sichtbar machen

Im Zuge des Kulturhauptstadtjahres entstand im Stadtzentrum sein Mural, das jüdische Überlebende des Holocaust zeigt. Rosia Bagriansky mit ihrer Mutter Gerta aus Kaunas, die ein Kapitel im "Memory Office", dem "Erinnerungsbüro", der Kulturhauptstadt sind. Ziel des "Büros" ist es, das multikulturelle Gedächtnis der Stadt und somit auch den Stolz der Bürger zu wecken. "Die Identität von Kaunas war bis vor wenigen Jahren in einer Krise", sagt Daiva Citvarienė, Kuratorin des Erinnerungs-Programms. Denn die Geschichte der Stadt hat so ihre Brüche: In der Zwischenkriegszeit war Kaunas die temporäre Hauptstadt Litauens, weil der Nachbar Polen Anspruch auf Vilnius erhob und es besetzte. Nach dem Krieg wurde Litauen zu einer Sowjetrepublik und Kaunas zu einer Provinzstadt degradiert – zugunsten von Vilnius.

Orte der "goldenen Jahre"

Die Zwischenkriegszeit wird daher von heutigen "Kauniečiai", wie die Bewohnern Kaunas auf Litauisch genannt werden, als die goldenen Jahre bezeichnet. Damals entstehen Museen, Opernhäuser und jegliche Regierungsgebäude – in kurzer Zeit und in modernistischer Architektur. Sie ist heute so zahlreich, dass die Stadt die Bauten gerne auf die Unesco-Weltkulturerbe-Liste setzen würde. Vielleicht hilft das Kulturhauptstadtjahr, denn es werden keine großen Neubauprojekte umgesetzt, dafür auf kleinere Initiativen gesetzt. Mehrere modernistische Gebäude werden für die Besucher zugänglich gemacht und die Diskussion über jenes Erbe angestoßen.

Das Thema vieler Künstler in Kaunas: Gutes bewahren

Povilas Konkulevičius ist mittendrin. Von Beruf ist er Architekt und hat ein Faible für alte Häuser. "Sie haben eine Seele", sagt er und sieht es als Lebensprojekt, das alte Holzhaus seines Großvaters in Žaliakalnis zu sanieren. Und es soll als Anschauungsobjekt über modernes Bauen in der Zwischenkriegszeit auch anderen Menschen dienen. "Wir müssen diese Architektur bewahren", sagt er. Um die Bewahrung geht es auch dem Kaunaser Künstler Vytenis Jakas – allerdings die Bewahrung des Gedächtnisses an Menschen. Als er vor einigen Jahren in eine Mietskaserne zog, fiel im auf, dass die Nachbarn einander entfremdet waren, und die Geschichte des Hofs – gleich in der Nähe der noch heute stehenden Synagoge – in Vergessenheit geraten ist. So fing er an, Bilder jener Juden, die hier einst gelebt hatten, auf die Hausmauer zu malen und stieß damit auf große Unterstützung. "Kiemo Gaerija" (Hof Galerie) heißt jener künstlerische Gedächtnisort, der an das einst lebendige jüdische Leben in Kaunas erinnert.

Parakas: der Partybunker

Eine andere Art von Erinnerung schwebt "Parakas" vor: Als Kaunas im 19. Jahrhundert russisch besetzt war, ließ Moskau mehrere Festungsanlagen um die Stadt errichten. In einigen von ihnen sind heute Museen oder auch Konferenzzentren entstanden. "Parakas" dagegen ist der ehemalige Schießpulverbunker und wird – ähnlich wie die Garage von Aistė Ramūnaitė in Žaliakalnis – nicht mehr für parkende Autos, sondern für Ausstellungen, Konzerte und Partys genutzt.

Quelle: MDR

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 22. Januar 2022 | 07:25 Uhr

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