Demonstranten gegen die Polizeigewalt in Belarus in Vilnius
Exil-Belarussen protestieren in Vilnius gegen die Polizeigewalt in ihrer Heimat. Bildrechte: imago images/Scanpix

Warum Vilnius für Belarussen so wichtig ist Litauen - Zufluchtsort für Regimekritiker aus Belarus

14. August 2020, 05:00 Uhr

In Belarus protestieren Tausende derzeit für Freiheit und Demokratie. Doch ein Systemwechsel wird nicht nur dort "erkämpft". Das kleine, beschauliche Nachbarland Litauen spielt nicht erst seit der Flucht der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja eine entscheidende Rolle. Die litauische Hauptstadt ist schon lange eine Hochburg politisch aktiver Exilanten aus dem Nachbarland.

Ein junger belarussischer Student, der anonym bleiben will, fiebert vor seinem Smartphone mit seinen Landsleuten in Minsk und leidet. Seine Nächte verbringt er dieser Tage nicht in den Straßen seines Heimatlandes, sondern auf dem Sofa in Vilnius. Auch hier bleibt er lieber im Verborgenen, weil er um seine eigene und vor allem um die Sicherheit seiner Familie in Belarus fürchtet.

Er betreut einen Kanal im verschlüsselten Messenger-Dienst Telegram und sorgt dafür, dass möglichst viele verifizierte Videos und Bilder der blutigen Proteste die Belarussen und die Welt erreichen. Er selbst wurde vor einigen Jahren zehn Stunden von der belarussischen Miliz gequält. Kürzlich erreichte ihn die Nachricht, dass in in seiner Heimat erneut ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet wurde.

eine Brücke in Vilnius beleuchtet in den belarussischen Farben
Ein Zeichen der Solidarität: Brücke in Vilnius beleuchtet in den belarussischen Nationalfarben rot und weiß. Bildrechte: Stadtverwaltung Vilnius

So wie ihm geht es vielen Dissidenten und Flüchtlingen aus Belarus, für die Vilnius zu einer zweiten Heimat im Exil geworden ist. Seit Dienstag dieser Woche hat auch Lukaschenkos aktuell wichtigste Rivalin, Swetlana Tichanowskaja, in Litauen Zuflucht gefunden.

Exilanten träumen vom Aufbau eines freien Belarus

Der Telegram-Aktivist, der anonym bleiben möchte, ist Student einer belarussischen Universität im Exil. Die "Europäische Humanitäre Universität" (EHU) wurde 2004 aus Minsk vertrieben. Mit internationaler Unterstützung und auf Einladung der litauischen Regierung fand sie 2005 ihr neues Zuhause in Vilnius.

"Wann genau wir uns von Lukaschenko befreien werden, steht vielleicht noch nicht fest, aber danach möchte ich zurück nach Belarus. Das Land wird mich brauchen, denn es ist ganz klar - es wird in Trümmern liegen und in vielen Bereichen müssen wir bei Null anfangen. Vielleicht kann ich dem neuen Staat helfen, im Auswärtigen Amt oder im Justizministerium", träumt der junge Mann. Doch noch stehen die Träume einer Zukunft in Freiheit tief im Schatten der Sorgen um den Verlauf der aktuellen Demonstrationen.

Ein Dorn im Auge Lukaschenkos: die Exil-Uni in Vilnius 

Maksimas Milta, Leiter der Kommunikation der EHU, weiß wovon der Student spricht und was für Zukunftsgedanken ihn quälen. Milta sitzt gerade in Minsk und kann die Demonstrationen aus der Nähe beobachten. Normalerweise kümmert er sich darum, seine Landsleute über die Möglichkeit, eines Studiums in Vilnius zu informieren. Keine leichte Aufgabe, denn Werbung für diese Universität ist in Belarus streng verboten. Dass die ins Exil vertriebene Uni Lukaschenko seit Langem ein Dorn im Auge ist, ist klar: Von den bisher etwa 2.500 Uni-Absolventen kehrten immerhin 62 Prozent nach Belarus zurück. Darunter sind viele Leiter von NGOs und mehrere Politiker der Opposition.

Porträt Maksimas Milta
Maksimas Milta versucht in Minsk im Geheimen, Studentinnen für die Universität in Vilnius zu werben. Bildrechte: Konstantin Gridnev

Litauen als aktivster Kritiker Lukaschenkos innerhalb der EU

Für viele ausländische NGOs und Stiftungen ist Belarus jedoch "Sperrgebiet" und kein Reinkommen möglich. So hat auch das Auslandsbüro Belarus der Konrad-Adenauer-Stiftung seinen Sitz seit 2007 in Vilnius. Nachdem die Stiftung in Belarus keine Registrierung bekommen hatte, war Vilnius die beste Wahl für die Konrad-Adenauer-Stiftung wie auch für andere Organisationen. Jakob Wöllenstein, der Leiter des KAS-Auslandsbüros, listet einige Gründe auf: die geographische Nähe, die jahrhundertelange historische und kulturelle Verbundenheit beider Länder und die lange Tradition der Exilorganisationen. 

Jakob Wöllenstein, KAS-Büroleiter Belarus 1 min
Bildrechte: MDR/Stasaityte
1 min

Jakob Wöllenstein leitet das KAS-Auslandsbüro Belraus. Was muss geschehen?

Do 13.08.2020 11:28Uhr 00:43 min

https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/video-436286.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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Litauen erkennt Wahl nicht an

Warum Tichanowskaja hierher gekommen ist, darüber kann man momentan nur spekulieren. In jedem Fall aber gibt es hier die für die Opposition nötige Infrastruktur. „Litauen ist das wohl aktivste EU-Land, das sich mit Belarus generell politisch beschäftigt. Jetzt gerade (Anm. d. Red.: am Mittwoch, den12.08.2020) hat der Auswärtige Ausschuss des litauischen Parlaments beschlossen, Lukaschenko als Präsidenten nicht anzuerkennen - das ist ein Präzedenzfall. Um politisch ein Zeichen zu setzen als EU Land, dass diese Wahl aus EU-Sicht nicht anerkannt wird", betont Wöllenstein. Als Reaktion auf die Niederschlagung der Proteste hat die litauische Regierung übrigens die Einreise für Flüchtlinge aus dem Nachbarland jüngst erleichtert.

Litauen macht es sich zu leicht

Vytautas Bruveris, Journalist der litauischen Tageszeitung "Lietuvos rytas", sieht die Rolle Litauens jedoch etwas differenzierter. Er wirft Litauen vor, dass pragmatische wirtschaftliche Gründe eine strengere Haltung verhindert haben: "Als der Westen wieder freundlich zu Lukaschenko wurde, weil man in ihm den einzigen Retter Belarus vor Russland sah, folgte Litauen leider dieser Einstellung, anstatt zu warnen, dass diese Haltung naiv und gefährlich ist. Litauen hat auch nie Sanktionen vorgeschlagen, um den Tyrannen wenigstens ein wenig zu stoppen. Jetzt scheint Vilnius genauso ahnungslos dazustehen wie Berlin, Washington, Paris oder Brüssel."

der litauische Journalist Vytautas Bruveris
Der litauische Journalist Vytautas Bruveris findet, Litauen hätte schon lange härter gegen Lukaschenko auftreten müssen. Bildrechte: Lietuvos rytas

Im litauischen Volk ist von solch politischem Kalkül wenig zu spüren. Nicht nur die vielen Profilbilder auf Facebook, die seit Tagen die nicht-offizielle belarussische Flagge zeigen, zeugen von einer Welle der Solidarität der litauischen Bürger mit den protestierenden Nachbarn. Die Erinnerungen an den eigenen Kampf für Freiheit und Demokratie und an die damals meist vergeblich erhoffte Solidarität aus dem freien Westen sind hier noch allgegenwärtig.

(adg)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 15. August 2020 | 07:20 Uhr

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