Russland-Ukraine-Krieg Georgien: Warum Russen nicht willkommen sind
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02. Juni 2022, 17:09 Uhr
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine verlassen immer mehr Russen ihre Heimat. Grund sind die Sanktionen gegen ihr Land sowie Angst vor Haftstrafen und dem Militärdienst. Aufgrund der massiven Einschränkungen des russischen Flugbetriebs fliehen sie hauptsächlich in die Türkei und in die ehemaligen Sowjetrepubliken des Südkaukasus. Doch in Georgien werden die Russen nicht mit offenen Armen empfangen.
"Jungs, wir sind keine Freunde! Ihr seid nicht willkommen in unserem Land! Ihr könnt sagen, dass ihr nicht Putin seid, dass ihr diesen Krieg nicht wollt, aber niemand wird euch diese Scheiße glauben", so ein junger Georgier in bestem Englisch in einem TikTok-Video. Er heißt Giorgi Damenia, ist 20 Jahre alt, lebt in Tbilisi und hat die Nase voll von den vielen Russen, die derzeit in seine Heimat einwandern. Georgien ist ein bei Russen traditionell beliebtes Reiseland. Ein Erlebnis gab Giorgi den Anstoß für das TikTok-Video: "Ich kam neulich in einen Laden und dort waren ein paar Russen. Die alberten herum und waren laut. Einer sagte: 'Ich fühle mich, als wäre ich im Urlaub!' Ich habe mich darüber geärgert, dass jemand in Kriegszeiten so sprechen kann – noch dazu, wenn sein eigenes Land schuld am Krieg ist."
Flucht vor Sanktionen, Unterdrückung und dem Dienst an der Waffe
Über 40.000 russische Staatsbürger sind in den ersten Kriegswochen nach Georgien gekommen, um hier eine gewisse Zeit zu überbrücken oder nach einer neuen Zukunft zu suchen. Sie fliehen aus ihrer Heimat wegen der schweren Wirtschaftssanktionen des Westens, wegen Putins harter Maßnahmen gegen jegliche Kritik und Meinungsfreiheit oder aus Angst, bei der russischen "Spezialoperation" in der Ukraine irgendwann selbst mitkämpfen zu müssen. Unter ihnen sind auch viele Putin-Gegner: Aktivisten, Journalisten, Intellektuelle.
Ein genereller Argwohn gegenüber allen Russen, wie ihn Giorgi pflegt, sei in Georgien weit verbreitet, so Egor Kuroptew – Leiter der Kaukasusabteilung der NGO "Free Russia Foundation". "Zehntausende Russen sind schon gekommen. Die Bevölkerung hat Angst, dass Putin auch hier einmarschieren könnte, um sie zu 'retten'. So läuft es ja immer." Deshalb sei in Georgien oft zu hören: "Fahrt nach Russland zurück, macht dort was gegen Putin! Warum kommt ihr nach Georgien?"
Exil-Russen seit bald zehn Jahren organisiert
Egor Kuroptew ist selbst Russe und bereits vor zehn Jahren nach Georgien gekommen. Inzwischen spricht er Georgisch und weiß genau, wie die Georgier ticken. Das Land hat bereits im August 2008 einen Krieg mit Russland erlebt. Danach hat sich das russische Militär jedoch nicht komplett zurückgezogen, sondern hält die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien bis heute besetzt. Die Angst, dass Georgien das nächste Angriffsziel Russlands sein und Putin das gesamte Land okkupieren könnte, ist allgegenwärtig.
Die durch Spenden finanzierte NGO "Free Russia Foundation" wurde 2014 von Exil-Russen in den USA gegründet. Sie engagiert sich für Demokratie in Russland und unterstützt die Opposition gegen Putin. Da für viele Regime-Gegner das Leben in Russland mit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine noch gefährlicher geworden ist, hat die Organisation mehr denn je zu tun. Egor Kuroptews Büro ist oft die erste Anlaufstelle für politische Flüchtlinge aus Russland, die in Georgien Fuß fassen wollen. Hier bekommen sie praktische Tipps und Hilfe, um sich ein neues Leben aufzubauen und sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Derzeit wächst die Community der Exil-Russen in Georgien nahezu täglich. Artjom Petuchow ist nur einer von vielen Neuankömmlingen.
Oppositionsarbeit aus dem georgischen Exil
Der 29-jährige Artjom ist Mitglied der russischen Oppositionspartei "Jabloko" und aktiv in der Anti-Kriegsbewegung. Nur wenige Tage nach der russischen Großinvasion in der Ukraine stand die bewaffnete Sondereinheit OMON vor seiner Wohnungstür in Moskau, um ihn festzunehmen: "Ich habe bist zuletzt versucht, in Russland zu bleiben und dort meine Stimme laut zu erheben. Über meine Kanäle wurde ich informiert, dass gegen mich ein Strafverfahren vorbereitet wird." Dem Aktivisten wurde klar, dass es wirksamer sein würde wegzugehen und seine Arbeit im Exil fortzusetzen, als ins Gefängnis zu gehen.
Hals über Kopf, nur mit der Kleidung am Leib und seinem Handy, war Artjom zum Flughafen gefahren, um Russland zu verlassen. Georgien war seine erste Wahl, weil er dort schon einmal war und ein paar Kontakte hatte. Außerdem können russische Staatsbürger ohne Visum einreisen und sich dort bis zu einem Jahr aufhalten. Die "Free Russia Foundation" hatte ihm geholfen, ganz schnell ein Flugticket zu bekommen. Mittlerweile können die bis zu 3.000 US-Dollar kosten. Bei der russischen Passkontrolle floss Artjom der Angstschweiß, aber wie durch ein Wunder wurde er durchgewunken.
Nun lebt Artjom in Tbilisi – von seinen wenigen Ersparnissen, getrennt von seinen Freunden, seinem Hund und seiner Katze, um die sich jetzt seine Mutter kümmert. Über Bekannte hat er eine günstige Wohnung gefunden. Sie ist zwar in schlechtem Zustand – ohne Heizung, ein Fenster ist kaputt, Anfang März war es dort eisig kalt –, aber Artjom ist trotzdem froh über die Bleibe. Viele Georgier wollen nicht an Russen vermieten oder tun dies nur zu überhöhten Preisen – wohlwissend, dass auch Wohlhabendere unter den Neuankömmlingen sind.
Mitverantwortung für Putins Handeln?
Auch auf der Straße bekommen die Migranten aus Russland zu spüren, was offenbar sehr viele Georgier von ihnen halten: An jeder Ecke im Zentrum von Tbilisi hängen Plakate mit QR-Codes, die auf Russisch Tipps für Bankkonto-Eröffnungen, Unterkünfte oder Rabatte für Musik-Events versprechen. Wenn man diese QR-Codes über das Handy aufruft, wird man stattdessen aber zu einem Video geleitet, das Kriegsbilder aus der Ukraine zeigt und eine unmissverständliche Botschaft verkündet: "Nicht nur Putin ist schuld." Obwohl Artjom ein offener Putin-Gegner ist, hat ihn das Video beschäftigt: "Es richtet sich gegen ALLE Russen. Dem kann ich natürlich nicht ganz zustimmen. Ich lehne aber auf keinen Fall die Verantwortung dafür ab, was passiert. Wir alle tragen Verantwortung!"
Olga Barabanowa ist da anderer Meinung. Die 32-jährige Unternehmerin produzierte in Moskau High-Tech-Rollstühle und leitete eine gemeinnützige Stiftung für gehbehinderte Kinder. Nachdem sie an Antikriegs-Demos teilgenommen hatte, geriet auch sie unter Druck und sah in Russland keine Zukunft mehr für sich: "Mir tut es sehr weh, dass ich mein Land verlassen und alles hinter mir lassen musste – meine Eltern, meinen Betrieb, den ich aufgebaut habe. Ich schäme mich nicht, Russin zu sein. Ich habe diesen Präsidenten und seine Regierung nicht gewählt. Deshalb trage ich für ihr Handeln auch keine Verantwortung."
Olga verurteilt den Krieg gegen die Ukraine zutiefst, ihre Großmutter ist in Charkiw aufgewachsen. Dass auch die Georgier unter dem übermächtigen Russland leiden, versteht sie. Doch sie möchte von ihnen nicht in Geiselhaft genommen werden: An ihrem Hauseingang in Tbilisi hängt ein Zettel. "Da ist die Rede von den 20 Prozent, die Russland vom georgischen Territorium bereits okkupiert hat, und dass Russen hier nicht gern gesehen sind, dass sie nach Hause fahren sollen. Ich denke, sowas vermehrt nur die Aggression. Mit Sicherheit eint es die Menschen nicht."
Olga kann sich nicht vorstellen, in Georgien zu bleiben. Anders als Artjom. Wie er ohne Georgisch-Kenntnisse Geld verdienen soll, ist ihm zwar noch unklar. Aber untätig ist er nicht. Gemeinsam mit Aleksej Woloschinow, einem 20-jährigen Journalisten, dem ebenfalls nach Kriegsbeginn in Moskau Gefängnis drohte, betreibt er einen Youtube-Kanal. Dort zeigen sie Interviews mit Oppositionellen, die in Russland geblieben sind. Die technischen Mittel, um die Videos zu produzieren, stellt den beiden Egor Kuroptews Büro der "Free Russia Foundation" zur Verfügung. Ziel ist es, den Widerstand in Russland medial zu unterstützen und den Andersdenkenden dort zu zeigen, dass sie nicht alleine sind.
Und auch Freundschaften mit Georgiern knüpfen die jungen Russen zunehmend. Ihre erste Bekanntschaft war ausgerechnet Giorgi aus dem TikTok-Video. Einer ihrer Freunde hatte auf den Post des verärgerten Studenten geantwortet: "Wir wissen, dass wir Russen mies sind, dass wir einen Krieg begonnen haben. Deswegen fühlen wir uns schlecht." Giorgi schlug daraufhin vor, gemeinsam etwas zu unternehmen. Seitdem treffen sie sich regelmäßig. Zumindest zwischen diesen jungen Männern sind die Ressentiments ausgeräumt.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 09. April 2022 | 18:00 Uhr