Erziehung Russland: Politische Bildung per App

20. Juli 2022, 16:30 Uhr

Wie verhält man sich in Russland bei einer Verhaftung? Was tun, wenn man gestalkt wird? Menschenrechtler und Spieleentwickler trainieren junge Russen mit Computerspielen.

Zwei Polizeibeamte verhaften jemanden.
Aus dem Leben gegriffen: Die Spiele von Noesis werden auf Basis von echten Fällen entwickelt. Bildrechte: Noesis

Es ist eine Geschichte, wie sie in Russland dieser Tage oft passiert. Ein Student wird bei einer Kundgebung gesehen – und gerät ins Visier der "Gebnja", wie Strafverfolgungsbehörden im russischen Jugendslang heißen. Sie laden ihn zu informellen Gesprächen vor, dann bekommt er eine Vorladung zum Verhör, schließlich wird seine Wohnung durchsucht. Jetzt ist guter Rat teuer, denn der Student steht bereits mit einem Bein im Gefängnis: Soll er freiwillig mit den "rauen Männern in Zivil" zusammenarbeiten? Sich auf Artikel 51 der Verfassung berufen, der das Recht vorsieht, sich nicht selbst zu belasten? Oder ganz einfach versuchen, wegzulaufen? 

Zwei Polizeibeamte führen eine Hausdurchsuchung durch
Was tun bei einer Hausdurchsuchung? Gut, wenn man das schonmal am Computer geübt hat. Bildrechte: Noesis

Zum Glück ist das alles nur ein Spiel – zumindest in diesem Fall. "Gebnja" ist ein Computerspiel, genauer: eine mobile App des Spieleherstellers und Multimediastudios Noesis. Darin muss die Spielerin oder der Spieler in verschiedenen Szenarien Begegnungen mit den russischen Sicherheitsbehörden überstehen, ohne im Gefängnis zu landen.  

Aus Spiel wird schnell Ernst

"Wir haben das Game zusammen mit Juristen entwickelt, es beschreibt also echte Fälle. Eine Geschichte handelt zum Beispiel vom Leben in einer Untersuchungshaftanstalt, eine andere von häuslicher Gewalt", erklärt Nikolai Owchinnikow, einer der Leiter von Noesis. Die Nutzer können verschiedene Szenarien, in denen sie mit den russischen Behörden in Konflikt geraten, spielerisch bewältigen und sich so für den Ernstfall fit machen. Und ernst kann es in Russland ganz schnell werden.

Ein Polizeibeamter am Schreibtisch
Viele junge Menschen wissen nicht, dass sie sich nicht selbst belasten müssen. Bildrechte: Noesis

"Die App enthält auch direkte Ratschläge, zum Beispiel was zu tun ist, wenn man durchsucht wird, oder wenn Polizisten bei Ihnen etwas Verbotenes platzieren, wie Sie Ihre Computer und Mobilgeräte sichern und wie Sie sich bei einer Demo verhalten sollten", so Nikolai. Gerade junge Menschen wissen oft nicht, wie sie mit offiziellen Stellen umgehen sollten und welche Rechte sie haben. "Unglaublicherweise wissen die meisten jungen Russen nicht einmal, dass sie nicht gegen sich selbst aussagen müssen", sagt Nikolai kopfschüttelnd.

Nicht belehren, sondern mitnehmen

In Russland wird ein offener Diskurs über gesellschaftliche Probleme des Landes seit Jahren systematisch verhindert. Daher ist es um die politische Bildung und das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein gerade junger Menschen in Russland schlecht bestellt. Diese Lücke möchte Noesis füllen. Gemeinsam mit Fachleuten, Menschenrechtsaktivisten und NGOs entwickelt das Studio Spiele zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen: Häusliche Gewalt, Stalking, sexualisierter Missbrauch und Machtmissbrauch durch Behörden. Finanziert wird das Ganze von den NGOs, die ihre Themen platzieren wollen.

Anruf der Behörden
"Unbekannte Nummer": Rangehen? Oder lieber doch nicht? Bildrechte: Noesis

Ziel ist es, die jungen Menschen nicht zu belehren, sondern an ihren Erfahrungen anzudocken: "Wir wollen von ihren Problemen und Sorgen, von ihren dringenden Bedürfnissen und von ihrer Denkweise ausgehen", sagt Nikolai, der zuvor als Journalist bei Afischa Daily, einem beliebten russischen Internetportal, gearbeitet hat. "Wir glauben, dass wir ihnen so "Rechtsbewusstsein einimpfen" und gewisse Rechtskenntnisse vermitteln können. Auf dieser Grundlage können junge Menschen ihren Horizont und ihr Wissen über die Welt erweitern und lernen, andere Sichtweisen zu respektieren. Und vielleicht wird ihr Leben dadurch ein bisschen besser."

Die Idee, Computerspiele für die Bildungsarbeit zu nutzen, ist nicht neu. Auch in Deutschland gibt es dafür zahlreiche Beispiele. So hat etwa die Bildungsstätte Anne Frank ein Mobile Game mit dem Titel "Hidden Codes" über Radikalisierung im Internet aufgelegt. Das Umfeld, in dem Noesis arbeitet, ist allerdings ein deutlich anderes: Schließlich gibt es in Russland keine Medienfreiheit. Daher sind diese Computerspiele ein umso wichtigerer Weg, jungen Menschen verlässliche Informationen zu vermitteln.

Neue Methoden für ein neues Publikum

Zu den Kunden des Game-Studios gehört auch die Stiftung "Public Verdict", eine NGO, die Menschen hilft, die von Strafverfolgungsbehörden misshandelt wurden. "In Bezug auf gesellschaftlich relevante Themen haben die Spiele ihr Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft: Neue Zielgruppen in die Lösung von Problemen einzubeziehen, die Hilflosigkeit der 'normalen Menschen' dem 'unheimlichen Thema' gegenüber zu überwinden. Erst bei der Spielentwicklung wurde uns klar, wie wir dies tun und auf ein neues Publikum zugehen können. Das Noesis-Team half uns dabei. Sie sind echte Profis", erzählt Inga Pagawa von Public Verdict. Die NGO ist bereits 2014 vom russischen Justizministerium zu einem "ausländischen Agenten" erklärt worden.

Sieben Spiele hat das Studio bereits auf den Markt gebracht, die insgesamt eine halbe Million User erreicht haben. Neben "Gebnja" ist das Spiel "Where the Relationship Goes" besonders beliebt, das sich um den Missbrauch in Beziehungen dreht. Auch das Spiel "Polina gegen Stalker" hat positives Feedback gebracht. Hier muss die Spielerin sich – der Name des Spiels verrät es – gegen einen Stalker zur Wehr setzen. Bei der Entwicklung des Spiels hat sich Noesis vom Verein "Ingo" beraten lassen, der Opfern von Stalking hilft. "Und jetzt schreiben uns Mädchen: 'Das ist mir vor ein paar Jahren auch passiert, aber ich wusste nicht, dass es ein echtes Phänomen ist und dass ich mich so hätte verhalten sollen! Das werde ich jetzt auf jeden Fall meinen Freundinnen erzählen!'", sagt Nikolai stolz.

Ein Polizeibeamter überbringt eine Vorladung
Kann auch im echten Leben passieren: Man wird vorgeladen. Bildrechte: Noesis

"Social Technology Greenhouse" ist ein Projekt zur Unterstützung und Vernetzung russischer NGOs, das mit Noesis ein Spiel über die Auswirkungen der Technologie auf die Zukunft entwickelt hat. "Niemand sonst in Russland macht prosoziale Spiele, sie sind absolut einzigartig", sagt Producer Natalia Baranowa. "Sie haben es drauf, ein sehr komplexes Thema in Form eines Spieles für ein breites Publikum zu präsentieren."

Kein Spiel zum Angriffskrieg auf die Ukraine

Das nächste Spiel soll Mitte Juli auf den Markt kommen:  Es heißt "Citizen - Chief". Darin ist der Spieler ein Gefangener und sein Gegner ist ein Ermittler. Die Aufgabe besteht darin, die eigenen Rechte als Gefangener zu schützen – natürlich nur auf legalem Wege. "Wir fördern keine kriminellen Handlungen", betont Nikolai.  

Nur an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich die Spiele-Entwickler noch nicht herangetraut: "Uns scheint es einfach unethisch, Krieg zu spielen oder über die Schrecken des Krieges zu sprechen, wenn man das alles nicht selbst erlebt hat. Das ist ein Thema, mit dem sich andere Leute befassen sollten. Außerdem können wir die Einstellung der Menschen zum Krieg oder zu Flüchtlingen nicht in "Echtzeit" ändern. Wir arbeiten an langfristigen Perspektiven", so Nikolai.

Während die Zielgruppe der Spiele in Russland lebt, verrät das Team von Noesis nicht, von wo aus es agiert. Nikolai, selbst "auf Reisen" wie er sagt, erklärt: "Wir arbeiten mit Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, darunter natürlich auch aus Russland, und wir wollen sie nicht in Gefahr bringen."  Denn selbst nach allem computersimulierten Training ist mit den russischen Behörden nicht zu spaßen.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell TV | 25. März 2022 | 16:35 Uhr

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