Moskaus Optionen Ukraine-Russland-Krise: Was macht Putin, wenn die Gespräche scheitern?
Hauptinhalt
24. Januar 2022, 17:07 Uhr
Washington und Moskau wollen die Gespräche zur Ukraine-Krise fortsetzen. US-Außenminister Antony Blinken schließt einen weiteren direkten Austausch zwischen US-Präsident Joe Biden und Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht aus. Die US-Regierung wolle Moskau diese Woche schriftliche "Ideen" zur Beilegung der Krise vorlegen. Doch was passiert, wenn die Gespräche scheitern? Wie könnte Kreml-Chef Putin reagieren?
Die Lage rund um die Ukraine scheint sich in den letzten Tagen alles andere als zu entspannen. Während russische Truppen in Belarus unweit der ukrainischen Grenze neue Militärübungen abhalten, wendet sich US-Außenminister Antony Blinken mit einem eindringlichen Appell an die russische Bevölkerung, um sie vor den "negativen Folgen eines sinnlosen Krieges" mit dem Nachbarn Ukraine zu warnen. Auch die jüngste Gesprächsrunde zwischen ihm und seinen russischen Amtskollegen, Außenminister Sergej Lawrow, blieb vorige Woche in Genf weitgehend ergebnislos. Und nun fordert die US-Führung Familienmitglieder von Botschaftsangehörigen in Kiew dazu auf, die Ukraine zu verlassen.
Was will Putin eigentlich?
Vor diesem Hintergrund stellen sich viele Beobachter die Frage, was den russischen Präsidenten antreibt. Für die einen ist Russlands Strategie einfach nur ein Bluff, um die USA in eine neue Verhandlungsrunde zu zwingen. Andere wieder fürchten, dass Russland einen offenen Krieg beginnen könnte, um sich den Rest der Ukraine, wie früher schon die Krim, einzuverleiben. Russlands Erklärung, man wolle lediglich seine Sicherheitsinteressen schützen, wird von unterschiedlichen US-amerikanischen Amtsträgern und auch in der NATO mit dem Hinweis quittiert, dass das Militärbündnis des Westens zur Verteidigung gedacht ist.
Putins eigene Wirklichkeit
Dass die Führungsspitze in Moskau dies anders sieht, ist nicht bloß ein notorischer Propaganda-Trick des Kremls. In den vergangenen Jahren hat Wladimir Putin keine Zweifel daran gelassen, dass er die NATO nicht einfach als ein Verteidigungsbündnis betrachtet, sondern als einen verlängerten Arm der US-Streitkräfte. Unter diesem Gesichtspunkt macht Putin weniger die historische Rolle der NATO als Gegenspieler der Sowjetunion im Kalten Krieg Sorgen. Es ist vielmehr die jüngere Geschichte, die aus Moskauer Sicht alarmierend ist.
Bedrohlich wirken die NATO beziehungsweise die USA auch deshalb, weil Putin sich als ein vom Westen scharf kritisierter Autokrat in einer Reihe mit ehemaligen Herrschern wie dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, dem libyschen Diktator Muammar Gaddafi oder Iraks Herrscher Saddam Hussein sieht, die alle mit Hilfe westlicher Militärinterventionen zu Fall gebracht wurden. "Der endgültige Vertrauensbruch mit den USA kam nach der Libyen-Offensive der USA, Großbritanniens und Frankreichs", sagte Putin bereits 2014 bei einer seiner Pressekonferenzen. Damals hatte Russland bei einer UN-Abstimmung eine westliche Militäroperation zugelassen, die jedoch keine Luftangriffe auf libysche Truppen erlaubte, die dann dennoch erfolgt waren.
Russland will Einfluss auf die Ukraine behalten
Auch mit Blick auf die Ukraine unterscheidet sich die Sichtweise des Kremls deutlich von jener im Westen. Während für die Bewertung der Krise in der europäischen Öffentlichkeit vor allem Russlands aggressive Rolle seit Beginn der Krise 2014 im Vordergrund steht, sieht Russland in erster Linie das Risiko, seinen Einfluss auf die Ukraine endgültig zu verlieren. Russlands Aggression 2014 hat dazu geführt, dass die Ukraine ihr Militär modernisiert, neue Waffen beschafft und die Zusammenarbeit mit dem Westen vertieft hat – und nun auch immer lauter den Wunsch nach einer Mitgliedschaft in der NATO äußert.
Irgendwann, so fürchtet Putins Russland, könnte die Ukraine sich stark genug fühlen, um die abtrünnigen Gebiete im Osten des Landes wieder unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. Ein Problem sei etwa die angestrebte Entwicklung von Mittelstrecken-Raketen, die russische Städte erreichen könnten, meint etwa Rob Lee vom US-Think Tank Foreign Policy Research Institute: "Russland fürchtet, dass die Kosten einer Eskalation in Zukunft noch höher sein könnten als jetzt". Ähnlich sieht es auch der russische Politikexperte und Professor der Moskauer Higher School of Economics, Grigorij Judin: "Für Putin geht es nicht um einen mutigen Angriff, sondern um verzweifelte Verteidigung." Das wiederum mache die Situation gefährlich. "Putin geht davon aus, dass, wenn er die Bedrohung jetzt nicht beseitigt, es irgendwann zu spät sein wird."
Putins Optionen: Unabhängigkeit für den Donbass
Die Optionen, die bei Wladimir Putin auf dem Tisch liegen dürften, müssen jedoch nicht in erster Linie auf eine Invasion in der Ukraine hinauslaufen. Um den Westen vor einer tieferen Zusammenarbeit mit der Ukraine abzuhalten, behält sich Russland gleich mehre Abschreckungsszenarien vor.
Eine der Möglichkeiten, die in den russischen Machtkreisen diskutiert wird, ist eine offizielle Anerkennung der Unabhängigkeit der abtrünnigen Volksrepubliken im Osten der Ukraine durch Russland. Bislang schreckte Russland vor diesem Schritt zurück, mit der Begründung, dies würde die Ukraine endgültig aus dem Moskauer Orbit befördern. Außenminister Sergej Lawrow erklärte bislang wiederholt, dass dieser Schritt das Minsker Abkommen endgültig obsolet machen würde.
Am 20.01.2022 wurde dennoch ein entsprechender Vorschlag in die russische Staatsduma eingebracht. Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin stellte in Aussicht, dass der Vorschlag bald diskutiert wird. Der militärstrategische Gewinn für Russland würde sich dabei in Grenzen halten, allerdings könnte Russland seiner Militärpräsenz in den abtrünnigen Teilen der Ukraine einen offiziellen Anstrich verpassen, diese weiter aufstocken und damit den Druck auf die Ukraine erhöhen.
Russische Militärpräsenz in Belarus
Eine weitere Möglichkeit ist der Ausbau der russischen Militärpräsenz in Belarus, meint der Moskauer Militärexperte Pawel Luzin. "Dies würde Russlands Kontrolle über die ehemalige Sowjetrepublik weiter stärken", sagt er. Zudem könnte Russland das Territorium von Belarus nutzen, um auch das Drohpotenzial Richtung Westen zu erhöhen. Immer wieder haben russische Amtsträger in den vergangenen Wochen betont, dass eine russische Reaktion auf das Scheitern der Gespräche auch die Sicherheit des Westens betreffen werde.
Erst im November hatte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko den Kauf russischer Raketensysteme vom Typ Iskander angeregt. Diese haben eine Reichweite von mindestens 500 Kilometern. Die USA werfen Russland jedoch vor, dass die Reichweite in Wahrheit deutlich höher liegen könnte. Diese Systeme gelten als modern und können mit einem Nuklearsprengkopf bestückt werden. In den vergangenen Tagen schickte Russland zudem zahlreiche Einheiten zu einer Übung nach Belarus. Darunter waren auch zwei moderne Flugabwehrsysteme S-400.
Raketen für Venezuela
Eine dritte Möglichkeit hat bereits Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow nach den ersten Verhandlungen in Genf am 10.01.2022 im Interview mit russischen Journalisten ins Gespräch gebracht. Die Rede ist von der Stationierung russischer Raketen in Venezuela, zu dem Russland freundschaftliche Beziehungen unterhält. Mit diesen Raketen könnte Russland direkt das Gebiet der USA anvisieren. Erst vor wenigen Tagen hatte sich Putin telefonisch mit seinem venezolanischen Kollegen Nicolas Maduro ausgetauscht. Der genaue Inhalt der Gespräche ist unbekannt. Gleichwohl gilt diese Möglichkeit unter Experten als die unwahrscheinlichste, da Russland damit seine Sicherheitslage in Europa nicht verändern würde und dieser Schritt bestenfalls andere Maßnahmen flankieren könnte.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 21. Januar 2022 | 19:30 Uhr