Russischer Politologe im Interview "Es gibt keine Massenunterstützung für den Ukraine-Krieg"
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18. Mai 2022, 18:57 Uhr
Der russische Politikwissenschaftler Aleksander Kynew ist überzeugt, dass es trotz anders lautender Umfrageergebnisse in Russland keine mehrheitliche Zustimmung für die "Sonderoperation" in der Ukraine gibt. Wie westliche Sanktionen dagegen Präsident Putin in die Hände spielen, erklärt er im Interview.
MDR: Herr Kynew, die Frage ist vielleicht nicht besonders originell, aber das ist es, was sich die ganze Welt fragt: Warum unterstützen angeblich 80 Prozent der russischen Bevölkerung die sogenannte "militärische Sonderoperation", wie der Krieg gegen die Ukraine im offiziellen russischen Sprachgebrauch heißt?
Aleksander Kynew: Zunächst einmal werden in den russischen Meinungsumfragen die Zahlen immer nach oben korrigiert. Nehmen Sie eine beliebige Umfrage vor dem 24. Februar. Wie oft hat man uns von 86 Prozent Unterstützung für Putin erzählt. Aber einen solchen Prozentsatz hat er nie bei einer Wahl bekommen, selbst wenn man die Fälschungen berücksichtigt, die Experten auf ca. 15 bis 20 Prozent schätzen. Oder wenn ein Gouverneur einer Region angeblich mehr als 70 Prozent der Stimmen hat, die Wahl aber verliert. Diese Zahl ist also nichts weiter als reine Propaganda. Eine 80-prozentige Unterstützung gibt es nicht. Selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass die Menschen keine Angst hätten und die absolute Wahrheit sagen würden und dass die Umfragen völlig transparent und ehrlich wären, gäbe es diese Prozentsätze nicht.
Dr. Aleksander Kynew wurde 1975 geboren, lebt in Moskau und arbeitet als unabhängiger Politologe. Kynew hat Politikwissenschaften an der Lomonossow-Universität Moskau studiert. Bis 2019 war er als Professor an der Higher School of Economics in Moskau tätig und beschäftigt sich mit Parteien und Wahlen in Russland. Bis zur Schließung des unabhängigen Radiosenders "Echo Moskwy" im März 2022 gab Kynew dort regelmäßig Einschätzungen zu aktuellen politischen Themen ab.
Können Sie erklären, warum Sie die Umfrageergebnisse für derart verzerrt halten?
Den Menschen werden nicht die Fragen gestellt, auf die man Antworten erhält. Sie werden nicht gefragt, ob es notwendig sei, Menschen zu töten oder ob es gut sei, Städte zu bombardieren. Das heißt, es gibt keine Umfragen über die Zustimmung zum Krieg. Die ganze "Sonderoperation" wird den Bürgern als "Hilfe für die Landsleute im Donbass" verkauft. "Sind Sie der Meinung, dass 'unseren Landsleuten' geholfen werden sollte?" wird da gefragt. Natürlich antwortet der Durchschnittsbürger: "Selbstverständlich sollten wir das tun!" Dabei weiß er nichts von den Bombardements. In seiner Welt gibt es keinen Krieg, denn in den russischen Medien existiert er nicht. Man sollte also nicht den Fehler machen und eine Antwort auf eine Frage, die gestellt wird, als eine Antwort auf eine Frage zu verstehen, die gar nicht gestellt wurde.
Aber es spielt sicher noch mehr hinein als die Art der Fragestellung, oder?
Ja natürlich, man darf außerdem die allgegenwärtige Angst in der Gesellschaft nicht unterschätzen. Ich urteile nach meinen Kontakten in den russischen Regionen. Alle sagen das Gleiche: Die Menschen schweigen, sie sprechen überhaupt nicht über Politik. Sie haben Angst vor Geldstrafen, vor Denunziationen. Diese Meinungsumfragen zu zitieren, bei denen es sich nur um Massendruck auf die Menschen handelt, dient also bloß der Propaganda. Auf der anderen Seite funktioniert die sogenannte Problemsoziologie in Russland sehr gut. Wenn man die Menschen zum Beispiel fragt, was sie von der Qualität der medizinischen Versorgung oder der Straßen im Land halten, antworten sie, was sie denken. Denn es gibt keine "erwünschten" Antworten auf diese Fragen.
Und was ist mit anderen Zeichen der Unterstützung für den Krieg wie dem Zeigen des Z-Symbols?
Noch einmal: Es gibt keine Massenunterstützung für den Krieg! Wenn etwas auf Befehl geschieht, ist es keine Unterstützung, sondern Konformismus. Wenn Sie durch Moskau gehen, werden Sie kein einziges Auto mit einem "Z" darauf sehen. Die Situation im Jahr 2014 nach der Annexion der Krim war ganz anders. Die Krim ist ein Element der nationalen Mythologie, die in der Literatur und im Kino verherrlicht wird, und viele Menschen waren tatsächlich begeistert von diesem Ereignis. Die Tatsache, dass Kinder jetzt im Kindergarten in Form eines "Z" aufgereiht und dann gefilmt werden – glauben Sie denn, dies sei eine freiwillige Initiative ihrer Eltern? Natürlich nicht! Das sind Beamte, die sich bei ihren Vorgesetzten beliebt machen wollen, indem sie ihre Kreativität unter Beweis stellen. Sicherlich gibt es auch "Hurra-Patrioten", aber ihre Zahl hat seit dem 24. Februar nicht zugenommen, sie sind nur sehr laut.
Sie haben die Denunziationen erwähnt – ein weiteres Phänomen der heutigen Zeit. Das erinnert auf furchtbare Weise an die Stalinzeit. Wie ist das im 21. Jahrhundert überhaupt möglich?
Es handelt sich dabei um eine bestimmte Kategorie von Menschen, die wir aus der Sowjetunion kennen, die sogenannten "Aktivisten", die ihre Karriere dank der Kommunistischen Partei aufgebaut haben. Außerdem gibt es in jedem Mehrfamilienhaus eine gemeine alte Dame, die sich gerne über ihre Nachbarn beschwert. Mit anderen Worten, ein solches Phänomen gab es schon immer, aber es hat bestimmte Grenzen nicht überschritten. Die jetzige Zeit ist für solche Leute wie Manna vom Himmel, weil die Politik sie ermutigt und unterstützt. So verstärkt sich dieses Phänomen. Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: Ein Kollege von mir aus der Stadt Brjansk hat blaue und gelbe Bänder an seinen Balkon gehängt und wurde von seiner Nachbarin denunziert. Er wurde zu einer Geldstrafe von 35.000 Rubel – umgerechnet fast 400 Euro – verurteilt. Und das wegen der "Verunglimpfung der russischen Streitkräfte".
In der EU wird darüber diskutiert, wie man Einfluss auf das Regime in Russland nehmen und Druck auf Putin ausüben kann. Ein Sanktionspaket nach dem anderen wird verabschiedet, in der Hoffnung, dass die russische Gesellschaft "aufwacht".
In meinem sehr großen Bekanntenkreis kenne ich keine einzige Person, die die "militärische Sonderoperation" in der Ukraine aktiv unterstützt. Aber ich sehe Menschen, die über die Haltung des Westens empört sind. Wenn etwas die Unterstützung für Putin verstärkt hat, dann sind es die Sanktionen. Die Menschen fühlen sich dadurch beleidigt. Der Durchschnittsbürger sieht in der Regel keinen logischen Zusammenhang zwischen A und B, die Folge wird als Ursache wahrgenommen. Viele Menschen fassen die Sanktionen als persönliche Demütigung auf. Und sie schlussfolgern: "Also haben wir alles richtig gemacht, denn alle beleidigen uns und wir müssen uns verteidigen". Der Westen handelt meiner Überzeugung nach völlig kontraproduktiv.
Wie meinen Sie das? Gäbe es ihn Ihren Augen denn eine Alternative?
Es ist zwar der einfachste Weg, Menschen den Zugang zu etwas zu verwehren, nämlich zu bestimmten Leistungen. Aber vielleicht wäre es eine gute Idee, zunächst zu klären, wer Putins Anhänger sind und wer seine Gegner? Welche Gesellschaftsgruppen gibt es, welche Interessen haben sie? Letztlich schaden die Sanktionen in erster Linie den am besten ausgebildeten und unternehmerisch denkenden Russen, einschließlich ihrer Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen. Und sie sind der Kern der russischen Opposition. Die typischen "Putinisten" setzen sich aus Menschen mit geringer Bildung, niedrigen Einkommen und sogenannten "Silowiki" zusammen, also den mächtigen Kreisen des Sicherheits- und Verteidigungsapparats. Ich persönlich bin seit vielen Jahren gegen Putin, aber man verweigert mir eine Hotelbuchung, weil ich Russe bin, und so weiter und so fort. Ist das nicht diskriminierend? Und vor allem, wie soll das bitte Putin einschüchtern? Ich glaube, dass dies nicht das erste Mal ist, dass unsere Regierung den Westen zu Handlungen provoziert, die sie dann wunderbar für ihre Propaganda nutzt. Am Ende werden Sie ein Russland haben, das auf Jahre hinaus von kolossalen Ressentiments gegenüber der ganzen Welt nur so strotzt. Und jetzt bedenken Sie, was Hitler an die Macht gebracht hat.
Eine Erklärung für die Unterstützung der "Sonderoperation" ist Propaganda. Aber wir leben im Zeitalter der Digitalisierung, Informationsquellen gibt es im Überfluss. Warum können Menschen, die die jetzt in Russland verbotenen Plattformen Instagram oder Facebook aktiv genutzt haben und die dort ihre Katzen oder ihre Kochkünste gepostet haben, nicht ähnliche Kanäle nutzen, um alternative Informationen zu bekommen?
Diejenigen, die das wollten, haben längst herausgefunden, was vor sich geht, und ihre eigenen Schlüsse gezogen. Andere lassen sich einfach treiben. Niemand ist verpflichtet, sich über etwas zu informieren, das ihn nicht interessiert. Politik war schon immer nur für einen winzigen Teil der Bevölkerung von Interesse. Die Menschen müssen nicht nach Informationen suchen, die nicht öffentlich zugänglich sind. Sie haben andere Sorgen – zu überleben beispielsweise. Sie haben nicht die Energie, etwas anderes zu tun. In ihrer Freizeit gehen sie lieber angeln oder sehen sich TV-Serien an. Und Sie verlangen jetzt, dass sie nach alternativen Informationen suchen. Anstatt also Russland von Informationsquellen abzuschneiden, sollte der Westen alles tun, um einen maximalen Zugang zu ihnen zu gewährleisten, sie frei zugänglich zu machen! Stattdessen wird alles getan, damit die Russen noch weniger wissen.
Was meinen Sie damit, dass der Westen Russland von alternativen Informationsquellen abschneidet?
Nur ein Beispiel: Netflix zieht sich aus dem russischen Markt zurück, anstatt zum Beispiel einen Film in russischer Sprache über die Ereignisse in der Ukraine zu drehen. Die meisten Menschen in Russland sprechen kein Englisch, was bedeutet, dass sie keine englischsprachigen Quellen nutzen können. Unabhängige Medien in Russland sind jetzt aber geschlossen oder ihre Websites blockiert. Man kann blockierte Webseiten zwar über VPN-Verbindungen sehen, aber man kann VPN-Zugänge nicht mehr kaufen, weil russische MasterCards und Visa-Kreditkarten gesperrt sind. Es gibt kostenlose VPN, aber sie funktionieren nicht sehr gut. Fazit: Durch den Entzug der Zahlungssysteme wird den politischen Emigranten die Lebensgrundlage entzogen und der Zugang zu unabhängigen Informationen wird noch schwieriger. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass dadurch auch der russischen Opposition die Kanäle für das Fundraising abgeschnitten wurden. Die Machtinhaber in Russland brauchen kein Fundraising, sie haben ja den Staatshaushalt. Früher wurde viel über die sogenannten "Soft Powers" wie etwa die Anziehungskraft des westlichen Lebensstils geredet, aber jetzt werden sie irgendwie gar nicht mehr eingesetzt.
Kann man Massenunruhen in Russland erwarten? Was sind die Voraussetzungen für einen Volksaufstand?
Es wird keine Revolte und keinen Aufstand geben. Jahre der Unterdrückung haben das Land komplett verändert. Jahrzehntelang wurde eine aktive Schicht von Bürgern regelrecht ausgelöscht. Nur diejenigen, die sich angepasst haben und sich ruhig verhielten, haben überlebt. Und sie haben eine nächste Generation, die genau wie sie ist, hervorgebracht. Die vorherrschende Philosophie lautet jetzt: "Kopf einziehen! Bloß nicht aus der Reihe tanzen". Sie haben jetzt als russischer Bürger die Wahl: Entweder Sie riskieren Ihr Leben, oder Sie bauen mehr Kartoffeln an und hoffen, dass sich die Lage irgendwie bessert. Ich glaube, es ist offensichtlich, welches Verhalten rationaler ist. Die Menschen minimieren ihre Risiken. Und der zweite Faktor, der von vielen unterschätzt wird, ist die Größe Russlands mit seinen elf Zeitzonen. Um eine Alternative zur Regierung zu schaffen, muss man über enorme Ressourcen verfügen. Das heißt, dass jeder politische Prozess bei dieser Größe sehr langsam ist. Wir können also nur auf einen eliteninternen Wandel hoffen. Aber die öffentliche Meinung kann ein Katalysator für Prozesse innerhalb der Elite sein. Da erwartet uns eine lange, komplexe und schmerzhafte Entwicklung von innen. Aber die Kräfte, die an einem Wandel interessiert sind, können und sollten ermutigt und unterstützt werden.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Fernsehen | 12. Mai 2022 | 21:45 Uhr