Interview Wirtschaftsexperte in Russland: "Die Menschen bereiten sich auf das Schlimmste vor"
Hauptinhalt
12. März 2022, 05:00 Uhr
Oleg Buklemishev lebt in Moskau. Der Wirtschaftsexperte befürchtet, dass durch die westlichen Sanktionen schlimme Zeiten auf Russland zukommen könnten. Beim Zahlungsausfall 1998 arbeitete er im russischen Finanzministerium. Im Interview berichtet Buklemishev von der aktuellen Lage vor Ort, Schlangen an Geldautomaten, leeren Regalen im Einzelhandel und davon, dass keiner in Russland vor Verhaftungen sicher sei. Buklemishev spricht von den "tragischsten Tagen in der Geschichte" seines Landes.
Seit über zwei Wochen herrscht Krieg in der Ukraine. Auf den Einmarsch Russlands in das Nachbarland folgten westliche Sanktionen. In deutschen Medien ist bereits von einem möglichen Staatsbankrott Russlands die Rede. Die MDR-Wirtschaftsredaktion hat mit dem Moskauer Wirtschaftsexperten Oleg Buklemishev über die aktuelle Lage in Russland gesprochen.
Herr Buklemishev, machen sich die westlichen Sanktionen im russischen Alltag bereits bemerkbar?
Oleg Buklemishev: Ja, auf jeden Fall. Die Situation belastet das alltägliche Leben und auch die Psyche. Die Menschen stehen Schlange an den Bankautomaten, Bargeld kann man noch in Höhe von 10.000 US-Dollar abheben, der Devisenhandel ist eingeschränkt. Die Warenregale im Einzelhandel sind schnell leer. Die Preise steigen sehr schnell an und die nominalen Einkommen werden niedriger. Die Menschen kaufen schnell noch Importwaren, weil sie wissen, dass viele Unternehmen aus dem Ausland ihre Aktivitäten in Russland beenden. Man kann schon sagen: Die Menschen bereiten sich auf das Schlimmste vor.
Wie werden sich die Sanktionen und der Krieg weiter auswirken? Ist die Versorgung sicher?
Oleg Buklemishev: Das ist schwer zu sagen. Es gibt sehr viele denkbare Szenarien. Es könnte zu einer Deeskalation kommen, aber es könnte auch genauso weitergehen wie bisher. Dann würde sich die Lage deutlich zuspitzen. So oder so: Die Situation in Russland wird sich verschlechtern. Man wird das auch ganz praktisch an Dingen im Alltag merken: An der Produktauswahl im Einzelhandel zum Beispiel. Es wird mehr Arbeitslose geben. Derzeit sind Menschen teilweise formal noch beschäftigt, aber in Wirklichkeit sind sie bereits arbeitslos.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie die Sanktionen schon jetzt das Alltagsleben verändern?
Oleg Buklemishev: Nehmen Sie zum Beispiel die Kinos. Sie haben im Moment nichts im Angebot, weil es keine neuen Filme gibt. Das bedeutet, dass eine gesamte Branche im Grunde genommen zum Stillstand kommt. Die westlichen Sanktionen lösen eine Kettenreaktion aus und es werden viele Menschen betroffen sein. Die Büros werden sich nach und nach leeren und so geht das immer weiter. Menschen werden arbeitslos und am Ende des Tages muss der russische Staat ihnen Unterstützung aus der eigenen Kasse zahlen.
In westlichen Medien wird spekuliert, ob es zur nächsten russischen Staatspleite nach 1998 kommt. Halten Sie das für wahrscheinlich?
Oleg Buklemishev: Ich sehe das so: Wir haben die Zahlungsbereitschaft und die Zahlungsfähigkeit. Bei der Zahlungsfähigkeit sehe ich keine Probleme, obwohl etwa die Hälfte der Geldreserven eingefroren ist. Dennoch ist die russische Auslandsverschuldung im Vergleich zu vielen anderen Ländern gering und durch die internationalen Reserven gut gedeckt. Da sehe ich also keinen großen Grund zur Sorge.
Was die Zahlungsbereitschaft anbelangt, da könnten die Probleme zunehmen. Die Rating-Agenturen sind besorgt wegen der mangelnden Bereitschaft der Russen, ihre Schulden bei den Gläubigern zu begleichen, die ja im Wesentlichen zu den Ländern gehören, die in Russland jetzt als "unfreundlich" bezeichnet werden. Das könnte als eine Art Vorwand benutzt werden, um die Beträge nicht rechtzeitig zu zahlen.
Es wäre nicht rational, einen Zahlungsausfall zu erklären oder nicht zu zahlen. Man bestraft damit niemanden außer sich selbst. Ein Staatsbankrott im weiteren Sinne könnte dann bedeuten, dass Zahlungen an die Menschen, an die Bevölkerung, ausbleiben. Ich halte das momentan nicht für ausgeschlossen.
Sie sprachen davon, wie die Bevölkerung auch jetzt schon von den Sanktionen betroffen ist. Rechnen Sie verstärkt mit Demonstrationen und Unmut in der Bevölkerung?
Oleg Buklemishev: Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Die Russen sind bekannt dafür, dass sie jeden Ärger stur ertragen. Sie können auf ihre Grundstücke auf dem Land gehen, um etwas Landwirtschaft zu betreiben und ihre eigenen Lebensmittel zu produzieren. Aber das reicht nicht, um lange zu überleben. Es könnte wie in den 1990er Jahren werden, aber viele Menschen, vor allem in den Städten, haben diese Zeit vergessen. (Anm. d. Red.: Russland erlebte 1998 eine Staatspleite, die u.a. Nahrungsmittelknappheit zur Folge hatte)
Die Russen sind bekannt dafür, dass sie jeden Ärger stur ertragen.
In der heutigen Zeit kann man ganz einfach die westliche Welt für alles verantwortlich machen, was passiert. Und nichts anderes wird einem ja in der Propaganda im Fernsehen gesagt. Problem erledigt, Schuldiger gefunden. Ich weiß nicht, ob es zu Demonstrationen kommen wird. Selbst die Menschen der Mittelschicht verstehen nicht alle, was vor sich geht und das ist ehrlich gesagt eine meiner Hauptsorgen.
Sind Sie noch in der Lage, frei zu arbeiten und ihre Meinung zu äußern?
Oleg Buklemishev: In Russland kann sowieso jeder Mensch ins Gefängnis kommen. Das ist das russische Prinzip, dass man vor einer Festnahme nicht sicher ist. Damit sollte man hier in jedem Moment rechnen. Es gibt politische Gefangene, das ist kein Geheimnis. Neuerdings sollen wir den Krieg als "spezielle militärische Operation" bezeichnen und nichts gegen den Einsatz der Armee im Nachbarland sagen. Natürlich will man nicht gleich in der ersten Woche zur Zielscheibe dieser neuen Regeln werden.
Wie ist Ihre Lehre an der Universität betroffen?
Oleg Buklemishev: Wir unterrichten weiter, wir arbeiten weiter. Wir kümmern uns um unsere ausländischen Studenten. Einige deutsche und österreichische Studenten haben sich entschieden, zu bleiben. Wir müssen uns um sie kümmern. Außerdem wollen wir die Studenten unterstützen, die in den westlichen Ländern festsitzen. Ihre Karten sind gesperrt, sie leiden unter der Situation, können nicht zurückfliegen. Wir beobachten täglich die Situation und versuchen, unseren Studenten zu helfen.
Ich denke auch viel über meine ausländischen Kollegen und all die Kooperationen nach. Wir erhalten viele Briefe, dass die Menschen die Zusammenarbeit mit uns Russen einstellen. Ich verstehe sehr gut, warum das passiert, dass man nicht weitermachen kann wie bisher. Aber ich möchte darum bitten, dass nicht die gesamte russische Gesellschaft für die tragischen Ereignisse der letzten Tage verantwortlich zu machen. Und ja: Mit Sicherheit sind dies einige der tragischsten Tage in der Geschichte meines Landes.
Mit Sicherheit sind dies einige der tragischsten Tage in der Geschichte meines Landes.
Wie soll es jetzt weitergehen?
Oleg Buklemishev: Ich würde mir wünschen, dass es zu einer sofortigen Deeskalation kommt und die Militäraktionen aufhören. Und, dass wir beginnen, hier in Russland zu begreifen, was passiert ist und wie wir damit umgehen – wie wir als Nation weitermachen sollten. Aber das wird schwer. Für viele Russen wird jetzt eine ganz andere Zeit anbrechen. Das Land kann sich durch die aktuelle Situation nicht weiterentwickeln. Wir müssen schnell einen anderen Weg einschlagen. Das ist die Hauptaufgabe für die Eliten, für die Menschen, die sich für die Zukunft des Landes verantwortlich fühlen. Das ist, worüber ich jetzt nachdenke. Aber so weit sind wir noch nicht.
Es wird viele unschuldige Opfer dieser Politik geben, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland. Und die Menschen werden meiner Meinung nach leiden, ohne dass sie etwas zu dieser Situation beigetragen haben. Das Land als Ganzes wird für eine lange Zeit leiden, was auch immer in naher Zukunft passieren wird, da bin ich mir sicher.
In Deutschland liest man von Anfeindungen gegenüber Russinnen und Russen, die hier leben. Glauben Sie, dass dieser Krieg auch für längere Zeit einen Einfluss auf die russische Bevölkerung im Ausland haben wird?
Oleg Buklemishev: Auf jeden Fall. Es wird eine harte Zeit. Auch für Russen im Ausland. Ich habe mit Freunden gesprochen, die sich in Europa nicht mehr trauen, Russisch zu sprechen. Die Menschen sind wütend, geben ihnen stellvertretend die Schuld für das, was jetzt in der Ukraine passiert. Ich kann verstehen, warum das passiert, aber es ist falsch. Letztlich ist aber egal, was ich persönlich davon halte, ich kann es nicht ändern. Wir werden mit diesem Zustand leben müssen. Vielleicht für eine sehr lange Zeit.
Quelle: MDR-Wirtschaftsredaktion
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 11. März 2022 | 16:00 Uhr