Denis Trubetskoy - Menschen sitzen auf einer Rolltreppe, während sie in einer Metrostation Schutz suchen.
Bildrechte: Denis Trubetskoy - picture alliance/dpa/AP | Evgeniy Maloletka

Kommentar Warum ein "Einfrieren" des Ukraine-Kriegs derzeit schädlich wäre

30. März 2024, 07:17 Uhr

Täglich sterben Soldaten und Zivilisten in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Entscheidende Bewegungen auf dem Schlachtfeld gibt es jedoch derzeit kaum. Gleichzeitig sind die Menschen in der Ukraine russischem Beschuss aus der Luft ausgesetzt, der immer wieder Opfer fordert. Deshalb werden auch in Deutschland zunehmend Rufe nach einer diplomatischen Lösung und nach einem "Einfrieren" des Krieges laut. Denis Trubetskoy kommentiert, was das für die Ukraine bedeuten würde.

Porträt Denis Trubetskoy
Bildrechte: Denis Trubetskoy/MDR

Russlands umfassender Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert bereits über 760 Tage. Dabei liegt trotz hoher Verluste auf beiden Seiten die letzte große strategische Frontverschiebung im November 2022 schon weit zurück. Weder die ukrainische Sommeroffensive 2023 noch die russische Winteroffensive, die folgte, brachten die ganz große Veränderung der militärischen Lage.

Ruinierte Wohnhäuser in der Stadt Avdijwka
Das von Kämpfen zerstörte Awdijiwka im Februar 2024. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Forderung nach diplomatischen Lösungen jetzt – zynisch oder naiv?

Die Zeiten der großen Frontdurchbrüche sind in diesem Krieg also vorbei – zumindest vorerst. Und so machen mit regelmäßigem Abstand Vorschläge die Runde, nicht nur darüber nachzudenken, wie der Krieg an sich geführt werden sollte. Dies äußerte vor Kurzem der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der das aus ukrainischer Sicht ebenfalls sehr unglückliche Wort "Einfrieren" in den Mund nahm. Denn auch der ursprünglich von Moskau angezettelte Donbass-Krieg wurde schon 2015 de facto "eingefroren", was aber die russische Vollinvasion 2022 nicht verhindern konnte.

Auch Papst Franziskus hat der Ukraine jüngst in einem Interview indirekt den Mut zur "weißen Fahne" nahegelegt. Ausgerechnet die angegriffene Ukraine solle als vermeintlich schwächere Seite als erstes nachgeben. Dieser Denkfehler ist typisch für internationale Akteure, die gerne die Illusion von einem möglichen schnellen Ende der aktiven Kampfhandlungen verkaufen. Sei es nun aus zynischem politischen Pragmatismus oder auch aus Naivität. Weil man Entscheidungen Moskaus ohnehin nicht beeinflussen kann, hofft man offenbar insgeheim darauf, stattdessen Kiew zu etwas zu bewegen.

Repressionen in russisch besetzten ukrainischen Gebieten

Doch die objektive Kriegsrealität spricht eine andere Sprache. Das sogenannte "Einfrieren" ist schon wegen der brutalen Repressionen im russisch besetzten Gebiet kein erstrebenswertes Szenario. Erst am 20. März erschien ein neuer Bericht des UN-Menschenrechtskommissariats, der auf mehr als 2.300 Interviews mit Menschen auf besetztem ukrainischen Territorium basiert. Dort ist von einer "erdrückenden Atmosphäre der Angst" die Rede und davon, dass Russland auf besetztem Gebiet "schwerwiegende Verstöße" gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte begehe.

Ein Mann hebt eine Decke an
Butscha nahe Kiew im April 2022. Nach dem Abzug der russischen Besatzer fand man hunderte getötete Zivilisten. Butscha steht seitdem stellvertretend für russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

Russland, nicht die Ukraine zu Verhandlungen drängen

Trotzdem werden wahrscheinlich weder Russland noch die Ukraine einen endgültigen militärischen Sieg davontragen. Und so stehen zwei Dinge weitgehend fest: Weil jeder Krieg vor allem eine Frage von Ressourcen ist, wird irgendwann – an welcher Linie auch immer – der Moment erreicht sein, in dem beide Seiten nicht mehr bedeutend vorankommen können. Dann kann es vorerst einen Waffenstillstand geben – oder einen nicht unbedingt ausverhandelten, aber dennoch einen waffenstillstandsähnlichen Zustand.

Gleichzeitig ist es nahezu ausgeschlossen, dass eine Übereinkunft jemals über einen bloßen Waffenstillstand hinausgehen wird. Sowohl die ukrainische als auch die russische Verfassung erheben aktuell Anspruch auf die gleichen fünf ukrainischen Regionen sowie die Stadt Sewastopol, die in beiden einen besonderen Status hat. Die Ukraine wird diese Gebiete nie offiziell als russisch anerkennen. Russland würde den Anspruch auf sie dagegen selbst in der Zeit nach Putin nur mit großen Hürden wieder aus seiner Verfassung entfernen können. So wird es wahrscheinlich auch keine grundsätzliche Einigung zum Status der besetzten Gebiete geben.

Ein medizinischer Mitarbeiter tröstet eine Frau am Ort eines russischen Luftangriffs.
Die Stadt Saporischschja stand erst Mitte März wieder unter russischem Beschuss. Zwar wurde das Gebiet Saporischschja im Herbst 2022 von Russland annektiert. Es befindet sich aber nicht vollständig unter russischer Kontrolle, auch nicht die Gebietshauptstadt Saporischschja selbst. Bildrechte: picture alliance/dpa/AP | Andriy Andriyenko

Moskau will den Krieg nicht beenden

Doch wenn eine Art Waffenstillstand ohnehin fast unausweichlich ist, so könnte man fragen: Warum dann nicht jetzt? Ist es nicht einen Versuch wert, so schon jetzt Zehntausende Menschenleben zu retten? Abgesehen davon, dass die Ukraine mit dem "Einfrieren" des Donbass-Krieges eine denkbar schlechte Erfahrung gemacht hat und man die verheerende Menschenrechtslage in den besetzten Territorien nicht einfach ausblenden kann: Diese Fragen sollte man an Moskau und nicht an Kiew richten. Denn Russland ist der Angreifer und könnte den Krieg jederzeit beenden, doch dort ist kein politischer Wille dafür zu erkennen: Allein im Vergleich zum Kriegsjahr 2023 hat Russland sein Militärbudget für das laufende Jahr um 70 Prozent erhöht und rechnet in seinen strategischen Haushaltsplanungen mindestens mit der Finanzierung von zwei weiteren Kriegsjahren. Außerdem glaubt man im Kreml fest daran, angesichts bröckelnder US-Hilfen am längeren Hebel zu sitzen.

Würde die Ukraine jetzt also von sich aus Verhandlungen vorschlagen, wäre dies einerseits ein ultimatives Zeichen der Schwäche in Richtung Moskau. Und die würde Russland auf dem Schlachtfeld dann auch maximal nutzen. Andererseits würden solche kaum realistischen Gespräche ohnehin unter russischen Vorbedingungen laufen. Unter den Vorbedingungen, die Moskau offiziell nennt, gibt es solche, die man als rhetorische Floskeln abtun kann. Dazu gehört die sogenannte "Entnazifizierung" der Ukraine.

Diplomatie findet statt – Russland fordert "Entmilitarisierung" der Ukraine

Mit einer Vorbedingung meint es Russland aber erwartungsgemäß sehr ernst: mit der "Entmilitarisierung". Das ist auch über inoffizielle diplomatische Kanäle, etwa von arabischen Ländern oder China zu hören. Die stille Diplomatie ist nämlich, anders als von vielen pauschal behauptet, die ganze Zeit durchaus aktiv. So reiste beispielsweise der chinesische Sonderbeauftragte Li Hui kürzlich sowohl nach Moskau als auch nach Kiew. Die Treffen dort führten aber nicht zum Erfolg. Sowohl von ukrainischen als auch von russischen Quellen war zu hören, dass selbst China nicht einmal einen Waffenstillstand im Moment für realistisch hält.

Der Grund dafür sind Russlands Vorbedingungen: Derzeit würde Moskau einem Waffenstillstand nur dann zustimmen, wenn die Ukraine auf eine deutliche Reduzierung ihrer Streitkräfte sowie des Arsenals an weitreichenden Waffen, der Schaffung von größeren entmilitarisierten Pufferzonen auf ihrem Territorium und auch dem langfristigen Verzicht auf einen Nato-Beitritt zustimmen würde. Diese sogenannte "Entmilitarisierung" wäre Selbstmord für die Ukraine, im Grunde eine Einladung zu einer neuen russischen Invasion – nur mit günstigeren Voraussetzungen für Russland als am 24. Februar 2022.

Militärische Stärke gegen russischen Diktatfrieden

Nur auf einem Weg kann Russland von solchen Vorbedingungen abgebracht werden: Wenn ihm auf dem Schlachtfeld deutliche Grenzen gesetzt würden – und wenn die russische Armee am besten deutlich zurückgeschlagen würde. In jedem Fall muss Wladimir Putin klar gemacht werden, dass es für ihn in der Ukraine nicht weitergeht. Zumindest bis das erreicht ist, muss vor allem diskutiert werden, wie man diesen Krieg führen sollte. Denn erfolgversprechende Gespräche über einen Waffenstillstand kann es erst dann geben, wenn Russland von seinen unrealistischen Vorbedingungen abrückt. Doch warum sollte Moskau das tun, wenn es sich doch in einer Position der Stärke sieht?

Tatsächlich sind die Chancen, dass die Ukraine das Blatt wenden kann aber besser als gemeinhin angenommen. Natürlich beeinflusst der Wahlkampf in den USA die Lage der Ukraine heute schon. Generell erlebt die Ukraine aber zur Zeit vor allem deswegen eine schwere Phase, weil die Munitionsproduktion im Westen noch nicht soweit hochgefahren ist, wie sie es sein sollte. Gegen Ende des Jahres dürfte es aber endlich soweit sein. Bis dahin hat die Ukraine keine andere Alternative als durchzuhalten. Der mäßige Erfolg der russischen Winteroffensive trotz ukrainischer Munitionsprobleme hat gezeigt, dass sie dazu in der Lage ist. Aber selbst dann kann es noch lange dauern, bis Russland für seriöse Gespräche offen sein wird. Denn sowohl Schäden für die eigene Wirtschaft als auch enorme Verluste von Menschenleben in der russischen Armee beeindrucken Wladimir Putin recht wenig.

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MDR (usc)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 30. März 2024 | 07:17 Uhr

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