Russland Warum Russlands Hurra-Patrioten beim Kreml in Ungnade gefallen sind
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07. Dezember 2023, 10:43 Uhr
Sie unterstützen Russlands Krieg gegen die Ukraine vorbehaltlos, leiden unter den Rückschlägen der russischen Arme und erfreuen sich an den Verhaftungen vermeintlicher Kriegsgegner. Eigentlich müsste sich Präsident Putin darüber freuen, könnte man meinen. Doch mittlerweile sind die russischen Hurra-Patrioten dem Kreml ein Dorn im Auge. Denn in ihrem Übereifer gehen sie zu weit: Sie decken die Lügen der Beamten auf, und für den Verteidigungsminister haben sie nur Spott übrig.
Der Leiter des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, Waleri Fjodorow, schätzte kürzlich den Anteil der aktiven Kriegsbefürworter in der russischen Gesellschaft auf zehn bis 15 Prozent. Er bezeichnete sie als das "kriegführende Russland", das dem Motto "alles für die Front, alles für den Sieg" folgt. Diese Menschen kämpfen in der Ukraine, engagieren sich ehrenamtlich oder sammeln Spenden für die russische Armee. Im Gegensatz zur Mehrheit der Russen, die laut Umfragen versuchen, den Krieg zu ignorieren, ist das "kriegführende Russland" äußerst aktiv.
Z-Patrioten – die einstigen Propaganda-Lieblinge
Das Z-Zeichen ist das unverkennbare Symbol dieser Kriegsbefürworter, die in Russland als Z-Patrioten oder Turbo-Patrioten bekannt sind. Ursprünglich war die Z-Bewegung ein Eckpfeiler der Kremlpolitik und half der Propaganda, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Allerdings akzeptiert der Kreml nur einen Patriotismus, den er lenken kann. Viele Z-Patrioten sind für den Geschmack der Machthaber inzwischen zu eigenständig geworden.
Der Schriftsteller Iwan Phillipow, der die Z-Patrioten aufmerksam beobachtet, weiß warum: In Russland existieren keine unabhängigen Medien mehr, und der Z-Raum, zu dem insbesondere zahlreiche Telegram-Kanäle gehören, ist zu einem Ort geworden, an dem politischer Diskurs noch möglich ist. Kein Wunder also, dass der bekannteste Vertreter der "Kriegspartei", der Ultranationalist Igor Girkin, im Juli 2023 wegen Extremismus verhaftet wurde. Girkin ist nicht irgendwer – wegen seiner Beteiligung am Abschuss der malaysischen Boeing in der Region Donezk am 17. Juli 2014 wurde er in den Niederlanden in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der Ex-FSB-Offizier nahm in seiner Kritik am Kremlchef kein Blatt vor den Mund. So schrieb er z.B. im Juli, dass er es schade findet, dass Putin keine Frau sei, denn eine schwache Frau hätte zumindest starke Favoriten. Die Hurra-Patrioten haben seine Verhaftung in Russland richtig verstanden – keiner von ihnen hat sich für Girkin eingesetzt und der Kreis seiner "Verbündeten" lichtete sich rasch. Seine Ankündigung, an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen, die er aus dem Gefängnis heraus machte, wurde von der Z-Community ignoriert, als selbstmörderisch oder schlichtweg dumm bezeichnet.
"Kriegsreporter" zerstören heile Propaganda-Welt
Nach Phillipows Recherche gibt es allein auf Telegramm tausende Z-Kanäle mit mehreren hundert bis zwei Millionen Followern. Sie nennen sich "Soldatenwahrheit", "Söhne der Monarchie" oder "Totenköpfe". Für Phillipow, der das Gedankengut der Turbo-Patrioten analysiert, stellen ihre Texte ein Zeitdokument dar, "ein verzerrtes Spiegelbild", in dem der Krieg reflektiert wird: "Man kann darin keine Wahrheit sehen, aber man erfährt viel über das Land, das diesen Krieg führt."
Sie wollen, dass Russland gefürchtet wird.
Unter den Z-Bloggern finden sich zahlreiche Journalisten aus dem Umfeld des führenden Propagandisten des Landes, des TV-Moderators Wladimir Solowjew, und sogenannte "Kriegsreporter". Sie sind bedingungslos loyal gegenüber den Behörden und übertragen oft einfach ihre TV-Auftritte auf Telegram. Es gibt aber auch Kanäle, die von Frontsoldaten oder von Freiwilligen betrieben werden, die in ständigem Kontakt mit Menschen an der Front sind, z.B. den Kanal eines ehemaligen Häftlings, der begnadigt wurde und nun in der Einheit "Sturm Z" kämpft.
Diese Leute stören den Kreml eher, als dass sie ihm nutzen, weiß Phillipow. Denn die Propaganda konstruiert eine Welt, in der es alles nach Plan läuft. Viele Z-Autoren zerstören dieses Bild, indem sie über Probleme und Niederlagen sprechen und unbequeme Fragen stellen. Die "wütenden Patrioten", die die russische Invasion in der Ukraine aktiv unterstützen, sind mit deren Verlauf unzufrieden und werfen Putin Schwäche und schlechte Kriegsführung vor. Vor allem aber ärgern sie sich darüber, dass die Russen den Krieg zu ignorieren versuchen. Sie fordern eine Konsolidierung der Gesellschaft und die aus ihrer Sicht für den Sieg notwendige Mobilisierung der Wirtschaft.
Diese Forderungen stehen jedoch im krassen Gegensatz zu den Wünschen der Mehrheit der Russen. So beklagt sich der Schriftsteller Zachar Prilepin, der in der Ukraine gekämpft hat, dauernd darüber, dass der Staat die "Z-Kunst" nicht unterstütze. Kürzlich schrieb er sogar einen offenen Brief an Putin, in dem er sich beschwerte, dass es in Moskau kein einziges Theater gibt, das Aufführungen "über die Heldentaten unserer Soldaten" inszeniert. Mit solchen Forderungen stoßen die lautstarken Z-Patrioten nicht nur beim Kreml, sondern auch bei ihren Landsleuten auf wenig Gegenliebe.
Turbo-Parioten – keine organisierte Bewegung
Eine organisierte Kraft sind sie allerdings nicht, vielmehr sind sie zersplittert und haben weder erkennbare Strukturen, noch einen eindeutigen Anführer. Sogar der Chef der Wagner-Gruppe Prigoschin wurde von einigen von ihnen geliebt und von anderen gehasst. Auch Präsident Putin taugt nicht als Identifikationsfigur, denn seine Bewertung ist in dieser Gruppe großen Schwankungen unterworfen: "Kaum haben sie mal angefangen, Putin anzubeten, schon 'wacht' in ihm wieder ein Liberaler auf oder einfach nur ein alter Mann, der keine Veränderungen will", erklärte die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman in einem Interview.
Die einzige gemeinsame Idee innerhalb der Z-Community, neben der bedingungslosen Unterstützung des Krieges, ist der Hass gegenüber "Nicht-Russen" – also Fremdenfeindlichkeit, so Phillipow. Die Journalistin Anastasia Koschewarowa (273.000 Telegram-Abonnenten) beispielsweise erklärt offen, dass sie eine "russische Nationalistin" ist. "Make Russia great again" – das sei ihr Credo. "Sie wollen, dass Russland gefürchtet wird", erklärt Phillipow. In allen anderen Fragen herrsche unter den Z-Patrioten maximale Uneinigkeit.
Nicht einmal den Zweck des Krieges, den sie so hingebungsvoll unterstützen, konnte die Z-Gemeinhaft bisher eindeutig erklären. So veröffentlichte der Telegramkanal "Zwei Majore" (474.000 Abonnenten) den offenen Brief eines Soldaten an einen Abgeordneten der Staatsduma, in dem der Soldat fragte, wofür er eigentlich in der Ukraine kämpfe. Der Kriegsreporter Alexander Koz (fast 600 000 Abonnenten) lieferte seine eigene Erklärung: Der russische Soldat sei im Donbass, damit Russland wieder zu den Olympischen Spielen zugelassen werde.
Resignation und Angst vor Verhaftungen
Inzwischen herrsche in der Z-Gemeinschaft eine resignierte Stimmung, stellt Phillipow fest. Texte darüber, "wie wir Kiew in drei Tagen einnehmen werden" gehörten der Vergangenheit an. Stattdessen wachse die Unzufriedenheit mit der Situation im Land und an der Front. Es herrsche Angst davor, dass die Autoren von Kanälen, die den Krieg befürworten, vor den Präsidentschaftswahlen verhaftet werden könnten. Dies zeigt sich Phillipow zufolge nicht nur in dem, worüber sie schreiben, sondern auch in dem, worüber sie schweigen: "Ein unheilvolles Schweigen" herrsche über den Protest der Frauen, die die Rückkehr ihrer mobilisierten Männer nach Hause fordern.
Nur einige Kriegsblogger glauben noch, sich gewisse Freiheiten erlauben zu dürfen. Anastasia Koschewarowa erklärte beispielsweise, was Nationalismus für sie bedeutet, und stellte Thesen auf, die von jedem russischen Oppositionellen unterzeichnet werden könnten: "Es ist, wenn ich die Wahrheit sagen kann, ohne dafür eingesperrt zu werden."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 09. Dezember 2023 | 07:17 Uhr