Düstere Prognosen auf dem Prüfstand Wird Russland zerfallen oder im Bürgerkrieg versinken?
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16. Juli 2023, 08:16 Uhr
Mehr als 20 Jahre festigte Wladimir Putin seine Macht. Nichts schien sein Regime bedrohen zu können. Doch der Krieg in der Ukraine hat die Schwachstellen des Systems offengelegt. Wie instabil ist Russland wirklich? Wird das Land, wie von manchen prophezeit, zerfallen? Könnte es in einem blutigen Bürgerkrieg versinken – oder "nur" in Bedeutungs- und Machtlosigkeit?
Das Ausbleiben eindeutiger Erfolge im russischen Krieg gegen die Ukraine, die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage, die Flucht von fast einer Million Menschen aus dem Land, die Verschärfung der Repressionen, die Verabschiedung immer ungeheuerlicherer Gesetze und schließlich der Aufstand von Jewgeni Prigoschin – die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahre machen deutlich, dass etwas "faul im Staate" ist.
Wird Russland zerfallen?
Unabhängige Politologen warnen davor, dass die Aussichten für Russlands unmittelbare Zukunft äußerst düster sein könnten. Eines der Szenarien ist der Zerfall des größten Landes der Welt in einzelne politische Einheiten. Einige Oppositionelle, wie Garri Kasparow und Michail Chodorkowski, glauben, dass das Risiko eines unvorhersehbaren Zusammenbruchs umso größer ist, je länger das derzeitige Regime an der Macht bleibt. Andere, etwa Maxim Katz oder Wladimir Milow, bezeichnen solche Perspektiven als "Fantasiewelten." Darüber hinaus würde eine Diskussion über den Zerfall die Russen nur erschrecken und hälfe so am Ende Putin. Schließlich sei er derjenige, der immer davon spreche, dass ein äußerer Feind versuche, Russland zu zerschlagen.
Der Politologe Alexander Kynew ist allerdings der Meinung, dass weder die politischen noch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das Auseinanderbrechen des Landes gegeben sind. Er weist darauf hin, dass Russland ethnisch homogen ist und selbst in den nationalen Republiken Russen die Mehrheit bilden: "Es wäre seltsam, wenn Russen sich von Russen abspalten würden." Die Regionen, in denen andere Ethnien die Mehrheit bilden, wie z. B. der Nordkaukasus, seien wirtschaftlich schwach und vollständig von föderaler Unterstützung abhängig, so Kynew.
"Außerdem gibt es praktisch keine regionalen Eliten, die an einem Kampf für die Unabhängigkeit interessiert wären." 48 der 85 Gouverneure seien sogenannte "Waräger", erklärt Kynew – also Personen, die aus anderen Regionen bzw. aus dem persönlichen Umfeld des Präsidenten stammen und keine Bindung zur betreffenden Region haben. Sie seien völlig von Moskau abhängig. Waräger waren Wikinger, die im Mittelalter ins heutige Russland eingewandert sind und eine Art Oberschicht stellten – daher die heutige übertragene Benutzung des Wortes für ortsfremde Spitzenpolitiker.
Es wäre seltsam, wenn Russen sich von Russen abspalten würden.
Zu einer anderen Einschätzung kommt der Historiker und Politologe Juri Piwowarow. Er weist auf die Gefahren eines solchen Szenarios hin: "Es besteht die Möglichkeit, dass, wenn das Regime schwächelt, Regionen, die über Ressourcen wie Öl, Gas oder Gold verfügen, sagen: 'Wir können uns selbst versorgen'." Eine solche Entwicklung sei nicht ausgeschlossen. Aber aus Sicht von Piwowarow ist dies ein unerwünschtes Szenario, denn "Abspaltungen jeglicher Art werden die Situation verschärfen. Es könnte zu Konflikten zwischen den neuen Staatsgebilden kommen." In einem Land, das über Atomwaffen verfüge, dürfe dies nicht zugelassen werden. Außerdem sei Russland zwar flächenmäßig das größte Land der Welt, aber fast die Hälfte seines Territoriums liege im sogenannten ewigen Eis und sei praktisch unbewohnbar. "Russland ist in Wirklichkeit gar kein Riese", so Piwowarow.
Droht Russland ein Bürgerkrieg?
Der Krieg in der Ukraine spaltet die russische Gesellschaft. Prigoschins Rebellion schien der Vorbote eines regelrechten Bürgerkrieges zu sein. Doch wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Der Journalist Andrej Loschak hat eine Dokumentation über schwere familiäre Konflikte wegen des Krieges gedreht. Er glaubt nicht, dass die Russen bereit sind, sich gegenseitig umzubringen. Allerdings trieben die Machthaber "die gesellschaftliche Spaltung mit allen Mitteln voran".
Politologe Piwowarow erinnert zudem: "Der klassische Bürgerkrieg ist ein Kampf zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften, die sich nicht auf einen Kompromiss innerhalb des Status quo einigen können." In Russland gebe es keine entsprechenden antagonistischen Gruppen. Doch innerhalb des Regimes könnten interne Konfrontationen entstehen. Piwowarow glaubt, dass Prigoschins Aufstand der "erste Ausbruch" von Widersprüchen zwischen verschiedenen Gruppen und Interessen der Putin-Clique war. Es wäre Piwowarow zufolge beängstigend, sich die Folgen vorzustellen, wenn diese Konflikte auf russische Städte übergreifen würden: "Die moderne städtische Infrastruktur ist sehr zerbrechlich, es ist ziemlich einfach, sie zu zerstören. Gerade deshalb sind Aufstände wie der von Prigoschin so gefährlich."
Für Alexander Kynew ist ein Bürgerkrieg in Russland aus anderen Gründen schwer vorstellbar. Der Politologe ist davon überzeugt, dass die russische Gesellschaft durch Konformismus gekennzeichnet ist. Deswegen seien die Menschen nicht bereit, für etwas zu kämpfen, geschweige denn, sich für ein gemeinsames Ziel zu opfern. "Der Kampf wird innerhalb der Eliten ausgetragen, ohne dass sich gewöhnliche Bürger auf der Straße gegenseitig töten", ist Kynew überzeugt. Die Machtübernahme wird Kynew zufolge innerhalb der Elite unter Nachahmung legaler Prozeduren ablaufen. Eine "Zeit der Wirren", wie sie Russland zu Beginn des 17. Jahrhunderts vor der Thronbesteigung der Romanow-Dynastie erlebt hat, werde es nicht geben.
Der Kampf wird innerhalb der Eliten ausgetragen, ohne dass sich gewöhnliche Bürger auf der Straße gegenseitig töten.
Die Politologin Ekaterina Schulmann führt schließlich an, dass Bürgerkriege für Gesellschaften typisch sind, in denen die demografische Schicht der 15- bis 30-Jährigen die anderen Altersgruppen übersteigt. Doch die Altersstruktur in Russland sieht ganz anders aus.
Wird Russland ein "gescheiterter Staat"?
Fehlende Kontrolle über Gebiete, die der Staat als seine betrachtet, die Herausbildung mafiöser Machtstrukturen, eine schwache Währung, der Verlust des Gewaltmonopols – das sind Anzeichen für einen sogenannten "scheiternden Staat", in der Politikwissenschaft auch unter der englischen Bezeichnung "fragile state" bekannt. Es ist eine Diagnose, die bislang vor allem für afrikanische Entwicklungsländer gestellt wurden. Kann auch Russland ein solcher Staat werden?
Was ist ein schwacher bzw. gescheiterter Staat?
Als "schwacher Staat", auch "scheiternder Staat" oder im Extremfall "gescheiterter Staat", werden Staaten bezeichnet, die die klassischen Aufgaben eines Staates nur noch unzureichend erfüllen können.
In den meisten Fällen handelt es sich um afrikanische Entwicklungsländer. Als typische Eigenschaft schwacher Staaten gilt das fehlende Gewaltmonopol – der Staat kann nicht für die Sicherheit der Bürger garantieren und neben der Staatsgewalt, repräsentiert beispielsweise durch Armee und Polizei, gibt es weitere (zum Beispiel regionale) Machtzentren.
Außerdem kann der Staat keine Sozialpolitik betreiben, keine effiziente Verwaltung aufbauen und keine ausreichende Infrastruktur bereitstellen, da seine Einnahmen zu gering sind und die Steuern nicht eingetrieben werden können.
Ekaterina Schulmann weist darauf hin, dass Russland bereits seit 2014 keine international anerkannten Grenzen mehr habe. Bis 2022 stellte dies jedoch keine direkte Bedrohung für die russische Staatlichkeit dar, da es sich nur um eine Region handelte: "Die Krim war eine vergiftete Pille, aber der riesige Staatsorganismus konnte sie 'verdauen'." 2022 gibt es schon fünf Regionen, die von niemandem als russisch anerkannt werden, und in russischen Grenzgebieten wird es unsicher: "Das heißt, Russland ist nicht in der Lage, seine Grenzen zu schützen."
Dem Politologen Kynew zufolge ist es aber noch zu früh, davon zu reden, dass Russland ein gescheiterter Staat sei. Es sei zwar offensichtlich, dass das Regime schwächer werde, doch die Regierung verfüge über einen riesigen Apparat und genug wirtschaftliche Ressourcen. Und seine Kollegin Schulmann erinnert an die Zeit nach dem Ende der Sowjetunion: In den 1990ern habe man viele Anzeichen eines scheiternden Staates beobachtet, aber Russland sei damals nicht zusammengebrochen.
Kein Zerfall, kein Bürgerkrieg, kein gescheiterter Staat – wie wird also die Zukunft Russlands aussehen? Kynew glaubt, dass alle Veränderungen aus dem Inneren des Machtgefüges heraus kommen werden. Der Druck, die Macht an jemand anderen zu übergeben, werde von innen wachsen, sagt Kynew voraus und macht einen historischen Vergleich: "Denken Sie daran, dass auch Boris Jelzin Mitglied der obersten sowjetischen Führung war."
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten - Der Osteuropa-Podcast | 15. Juli 2023 | 07:17 Uhr