Propaganda und Realität Russland und China: Ziemlich beste Freunde?
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14. November 2023, 18:20 Uhr
Die russische Propaganda wird nicht müde, China als Freund und Verbündeten Russlands zu preisen. Beide Länder kämpften gemeinsam gegen den "kollektiven Westen", ihre Freundschaft sei "unzerstörbar" und "auf Augenhöhe". Wenn China – die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt – auf unserer Seite ist, kann uns nichts passieren, suggeriert der Kreml. Doch nichts davon ist wahr.
"Wir heißen den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Russland herzlich willkommen!" Solche Plakate in chinesischer und russischer Sprache schmückten die Moskauer Straßen während des "historischen" Besuchs des Genossen Xi im März 2023. Der chinesische Staats- und Parteichef besuchte Moskau, obwohl Russland von vielen Staatschefs gemieden wird.
Auch Wladimir Putin kommt regelmäßig nach China, obwohl er auf der internationalen Fahndungsliste steht. Der Handel zwischen Russland und China erreichte im Jahr 2022 ein Rekordvolumen von 190 Milliarden US-Dollar. Auf China entfällt fast ein Viertel des russischen Außenhandels, und China hat sein Handelsvolumen mit Russland um zehn Prozent gesteigert.
Russland und China – ungleiche Partner
Die sogenannte "Kehrtwende" nach Osten wird als eine unabhängige Entscheidung Russlands dargestellt. In Wahrheit begann sie allerdings 2014 nach der Verhängung der ersten Sanktionen nach der Krim-Annexion, erklärt der Orientalist Temur Umarow vom US-amerikanischen Think Thank Carnegie-Stiftung. Von gleichberechtigten bilateralen Beziehungen könne keine Rede sein, da China für Russland ein alternativloser Partner sei – abgesehen von der östlichen Richtung, gebe es für die russische Außenpolitik keine andere Option, so der Experte.
In der Tat ist China weitaus wichtiger für Russland als umgekehrt. Das bestätigt ein Blick auf die Handelsbilanz: Russland macht nicht einmal drei Prozent des chinesischen Außenhandels aus, das Reich der Mitte hat genügend andere Märkte, um seine Wirtschaft voranzubringen. Der russische Markt wird dagegen mit chinesischen Waren regelrecht überschwemmt, und zwar in allen Segmenten – von Baumaschinen bis hin zu Mobiltelefonen. Die 2014 von Moskau angekündigten "massiven chinesischen Investitionen" bleiben jedoch aus, chinesische Investoren ziehen sich sogar aus Russland zurück. Auch große Unternehmen wie Huawei, die selbst von westlichen Sanktionen betroffen sind, reduzieren ihre Präsenz in Russland.
Nur weil Wladimir Putin Xi Jinping die Hand schüttelt, macht das Russland nicht attraktiver für Investitionen, meint Umarow. Die Chinesen zögen es vor, dort zu investieren, wo sich ihre Investitionen auszahlten, d.h. in Ländern, die in globale Produktionsketten eingebunden seien, in denen ein hoher Konsum und ein steigender Lebensstandard herrschten und in denen es unabhängige Gerichte gebe, die nicht von mächtigen lokalen Beamten oder Geschäftsleuten bestochen werden könnten. "Wir haben noch keine großen chinesischen Investitionen gesehen und werden sie wahrscheinlich auch nicht sehen", sagt der Experte voraus.
Lernen russische Schüler bald Chinesisch?
Doch auch die russische Führung selbst habe Bedenken gegenüber chinesischen Investitionen, meint der Journalist und China-Experte Michail Korostikow. Aus seinen Gesprächen mit russischen Spitzenbeamten auf Gouverneurs- und Ministerebene weiß er: "Für diese Menschen ist China eine absolut fremde, unverständliche Zivilisation." Insbesondere im russischen Fernen Osten gibt es Ängste vor der wirtschaftlichen und territorialen Expansion des "großen Freundes", ergänzt Umarow. Die Chinesen würden alles aufkaufen, ganz Sibirien bevölkern, "den Baikalsee austrinken und die ganze Taiga abholzen", fasst er die russischen Ängste zusammen. Obwohl nichts dergleichen geschehe, bleibe die Furcht vor der sogenannten "gelben Bedrohung", die für die russischen Nationalisten des frühen 20. Jahrhunderts typisch war, bestehen, und reiche bis in die Reihen des russischen Inlandsgeheimdienst FSB, so Korostikow.
Offiziell wird die "Kehrtwende gen Osten" jedoch weiter propagiert. Wjatscheslaw Wolodin, der Vorsitzende der Staatsduma, sagte beispielsweise, Englisch sei eine tote Sprache, und rief dazu auf, Chinesisch zu lernen. "All das ist nur Geschwätz, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass der Verlust der Beziehungen zu Europa und Amerika kein Problem ist, 'weil wir China haben'", ist Korostikow überzeugt. Die Realität sieht jedenfalls anders aus: Laut aktuellen Angaben lernen in Russland nur 40.000 Menschen Chinesisch. Im vergangenen Jahr führte eine Meldung des Bildungsministeriums, die sich später als Fake erwies, wonach Chinesisch anstelle von Englisch zum Schulpflichtfach werden sollte, in den sozialen Netzwerken zu einer Welle negativer Reaktionen unter Eltern. In diesem Schuljahr wurde Chinesisch tatsächlich als Schulfach in den Grundschulen und Kindergärten eingeführt – in der Stadt Blagoweschtschensk. Von Blagoweschtschensk bis nach China sind es allerdings nur anderthalb Kilometer, bis nach Moskau sind es fast 6.000 Kilometer.
Kulturaustausch vor allem auf dem Papier
Auch der Kulturaustausch zwischen Russland und China findet größtenteils auf dem Papier statt. Der Durchschnittsrusse wisse nichts über China, und die bestehenden China-Bilder seien oft weit von der Realität entfernt, so Umarow: "Das sind Mythen über China, wo Züge bereits fliegen können." Die Jahre 2024 und 2025 sind zu russisch-chinesischen Kulturjahren erklärt worden. Laut Korostikow ist das aber ein "absolutes Fake-Event". Abgesehen davon, dass "das Bolschoi-Theater auf Tournee geschickt wird", werde nichts passieren.
Doch laut Waleri Gergijew, dem Chef des Mariinski-Theaters, der wegen seiner Freundschaft zu Putin als Leiter der Münchner Philharmoniker entlassen wurde, wird sich "der kulturelle Austausch zwischen Russland und China vertiefen und erweitern". Dies sagte er in Peking, als er von Journalisten gefragt wurde, wie sich der Besuch von Xi Jinping in Russland auf die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern auswirken werde.
Freundschaft mit China – mehr Schein als Sein?
Beide Experten stellen mit Genugtuung fest, dass in Russland jetzt neue Studiengänge mit China-Bezug eröffnet werden und die Sinologie regelrecht aufblüht. Angesichts der Tatsache, dass Russland und China eine gemeinsame Grenze von mehr als 4.000 Kilometern haben, ist dies durchaus verständlich. Doch um diese Richtung zu entwickeln, müssten zunächst Fachkräfte ausgebildet und enorme Investitionen getätigt werden. Dies wird Jahre in Anspruch nehmen. Umarows Prognose ist skeptisch: Autoritäre Regime seien nur darin erfolgreich, den Anschein von Aktivität zu erwecken. Alle Erklärungen über Einheit mit dem chinesischen Volk seien bloß "ein Versuch, uns davon zu überzeugen, dass Russland nicht isoliert ist".
Ob Russland in der Lage sein wird, sich gen Osten zu wenden, bleibt ungewiss. Die "Tür" zum Westen schließt sich jedenfalls immer schneller, und Russland grenzt sich auch selbst aus. Zur Fußballweltmeisterschaft 2018 begann man in der Moskauer Metro, die Stationen auf Englisch anzusagen. Nun wurde dies wieder rückgängig gemacht. Der Pressedienst der Metro begründete dies mit der angeblichen Bitte der Fahrgäste, "den Umfang der Audioinformationen zu reduzieren".
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 11. November 2023 | 07:21 Uhr