Elektroautos der Marke Moskwitsch in einer Werkhalle
Elektroautos im Verkaufssalon der russischen Automobilmarke Moskwitsch – trotz der westlichen Sanktionen präsentieren sich die Wirtschaftskennzahlen in Russland glänzend. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Trügerische Statistiken Die russische Wirtschaft brummt – wirken die Sanktionen nicht?

20. April 2024, 16:08 Uhr

Die offizielle russische Statistik verzeichnet scheinbar bemerkenswerte wirtschaftliche Erfolge. Doch Experten warnen vor Trugschlüssen. Hinter den glänzenden Zahlen verberge sich eine ganz andere Realität. Westliche Sanktionen nähmen der russischen Wirtschaft vor allem die Zukunftsaussichten.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Die Zahlen können sich sehen lassen: Das russische Finanzministerium berichtete Anfang April, dass die Haushaltseinnahmen im ersten Quartal 2024 um mehr als 50 Prozent gestiegen seien – das entspricht etwa 8,7 Billionen Rubel oder umgerechnet rund 86,1 Milliarden Euro. Der russische Staat scheint regelrecht im Geld zu schwimmen. Auƒch die Arbeitslosenquote ist mehr als vorzeigbar: Mit 2,8 Prozent erreichte sie laut Statistikbehörde Rosstat den niedrigsten Stand seit 1992, während die Reallöhne um 7,8 Prozent stiegen.

Angesichts dieser wirtschaftlichen Lage wird der Kreml in diesem Jahr offensichtlich sowohl die enormen Ausgaben für den Krieg als auch die Sozialleistungen und die Infrastrukturentwicklung finanzieren können. Alle "beispiellosen" westlichen Sanktionen scheinen die russische Wirtschaft wenig zu beeindrucken. Doch ist das wirklich so?

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Sanktionen mindern langfristig das Entwicklungspotenzial Russlands

"Sanktionen zeigen niemals schnelle ökonomische Auswirkungen und verändern nicht die Politik eines Landes. Man kann Putin nicht mit Sanktionen entmachten und den Krieg beenden", erklärt der renommierte russische Ökonom Igor Lipsits, der zu den Gründern der Higher School of Economics in Moskau gehört. "Wenn Sanktionen eingeführt wurden, um die russische Wirtschaft zum Zusammenbrechen zu bringen, haben sie in diesem Sinne tatsächlich nicht funktioniert", stimmt die russische Wirtschaftsjournalistin Alexandra Prokopenko zu, die seit Mai 2023 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin tätig ist.

Sanktionen zeigen niemals schnelle ökonomische Auswirkungen und verändern nicht die Politik eines Landes. Man kann Putin nicht mit Sanktionen entmachten und den Krieg beenden.

Igor Lipsits, russischer Ökonom und Mitbegründer der Higher School of Economics Moskau

Für beide Experten ist jedoch eins offensichtlich: Sanktionen mindern langfristig das Entwicklungspotenzial Russlands. Um das zu verstehen, muss man nur die russische Statistik genau analysieren. So sieht der Staatshaushalt nur deshalb so glänzend aus, weil er voriges Jahr sehr niedrig war, weiß Igor Lipsits, der am 15. März 2024 vom russischen Justizministerium zum "ausländischen Agenten" erklärt wurde. Seiner Meinung nach wird das Geld von der Privatwirtschaft in den Haushalt "gepumpt". Die Steuerlast ist drastisch gestiegen – unter anderem erhöht der Staat die Steuern auf den Verkauf von mineralischen Rohstoffen und die Exportzölle.

Panzer in einer Fertigungshalle
Panzerfertigung: Die russische Rüstungsindustrie braucht Arbeitskräfte – dadurch steigen die Reallöhne, v.a. am unteren Ende der Einkommenspyramide. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Die russische Mittelschicht verarmt

Auch die rekordverdächtigen Lohnzuwächse sollten nach Ansicht des Wirtschaftsprofessors nicht über die wahre wirtschaftliche Lage hinwegtäuschen. Seiner Meinung nach bleibt die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung immer noch arm. Aus indirekten Daten schließt Lipsits, dass die Russen verarmen: Sie kaufen beispielsweise in sehr billigen Geschäften ein. So wurde der Besitzer der Discounter-Kette "Swetofor", Sergei Schneider, in diesem Jahr erstmals zum Dollarmilliardär. Analysten gehen davon aus, dass der Anteil der Billigdiscounter bis 2025 etwa 50 Prozent des gesamten Lebensmitteleinzelhandels ausmachen wird.

"Es gibt Familien, die riesige Geldsummen für im Krieg gefallene Ehemänner erhalten. Aber das ist ein Prozess, bei dem das Leben von Männern gegen Geld für die Familie eingetauscht wird", so Lipsits. Gleichzeitig steigen die Einkommen der Ärmsten leicht, während die Einkünfte der Reichsten enorm wachsen und die Mittelschicht verarmt. Die Regierung plane, die Einkommenssteuer zu erhöhen, wobei laut Lipsits' Prognose schon Einkommen ab etwa 70.000 Rubel (rund 700 Euro) pro Monat deutlich stärker zur Kasse gebeten werden.

Kunden in einem Supermarkt
Russischer Supermarkt: Die steigenden Reallöhne verteilen sich nicht gleichmäßig über alle Gesellschaftsschichten – die Mittelschicht in Russland verarmt und immer mehr Russen müssen den Rubel zweimal umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Keine langfristigen Wachstumschancen für private Unternehmen

Die größte Gefahr für die russische Wirtschaft besteht jedoch darin, dass es für Privatunternehmen langfristig keine Wachstumsmöglichkeiten gibt. Igor Lipsits erklärt warum: Einerseits werden sie durch sehr teure Kredite unter Druck gesetzt, andererseits sind die Arbeitgeber gezwungen, die Löhne zu erhöhen, damit ihre Mitarbeiter nicht zu Rüstungsbetrieben abwandern. Allein 2023 stiegen die Gehälter in der Rüstungsindustrie um 60 Prozent.

Noch befinde sich Russland zwar in einem "Gleichgewichtszustand", meint die Wirtschaftsjournalistin Prokopenko, es gebe aber Risiken. Der beispiellose Arbeitskräftemangel und damit verbundene Lohnsteigerungen hätten auf dem russischen Markt eine paradoxe Situation geschaffen: Die Menschen hätten mehr Geld, könnten mit diesem Geld aber weniger kaufen, weil es wegen der westlichen Wirtschaftssanktionen immer weniger Waren gebe, so die Expertin.

Während des Krieges bekam ein Mann zwei Jahre lang 300.000 Rubel. Dann ist der Krieg zu Ende, und man sagt ihm, so, jetzt bekommst Du wieder 100.000 Rubel? Das ist eine ziemlich gefährliche Geschichte.

Wirtschaftsjournalistin Alexandra Prokopenko

Verschiedenen Schätzungen zufolge sind bis zu 15 Millionen Menschen auf die eine oder andere Weise im militärisch-industriellen Komplex beschäftigt. Sie profitieren vom Krieg. "Diese Menschen werden von Putin verlangen, dass der Krieg weitergeht", sagt Lipsits voraus. Und Alexandra Prokopenko rechnet an einem Beispiel vor: "Während des Krieges bekam ein Mann zwei Jahre lang 300.000 Rubel (rund 3.000 Euro). Dann ist der Krieg zu Ende, und man sagt ihm, so, jetzt bekommst Du wieder 100.000 Rubel? Das ist eine ziemlich gefährliche Geschichte."

Sergei Schoigu
Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu in einer Munitionsfabrik – Schätzungen zufolge arbeiten bis zu 15 Millionen Russen direkt oder indirekt für die Rüstungsindustrie. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Im Bankensektor zeigen die Sanktionen bereits Wirkung

Auch die Rüstungsindustrie steckt in Schwierigkeiten: Um die Produktion hochzufahren, werden zusätzliche Produktionskapazitäten benötigt, neue Anlagen müssen gebaut werden. "Und woher soll man all die Ausrüstung, die Ingenieure und die qualifizierten Fachkräfte nehmen?", fragt Ökonom Lipsits. Er prognostiziert einen baldigen Übergang der zivilen Wirtschaft auf militärische Schienen: "Russland steht an der Schwelle zur nächsten Entwicklungsphase, in der Privatunternehmen gezwungen sein werden, auf militärische Produktion umzustellen."

Alexandra Prokopenko hingegen glaubt, dass die russische Wirtschaft, obwohl sie sich wie eine Spirale um den erweiterten rüstungsindustriellen Komplex windet und bereits archaische, sowjetische Züge aufweist, marktorientiert und flexibel bleibt und sich gut an neue Bedingungen anpasst.  

In einem Bereich zeigen die Sanktionen ihre Wirkung allerdings bereits jetzt, und zwar im Bankensektor. Die Anzahl der Geldinstitute, die bereit sind, weiterhin in Russland tätig zu sein, nimmt ab, da sie aufgrund der Verschärfung der Sekundärsanktionen Ende letzten Jahres Angst haben, Geschäfte mit Russland zu tätigen. "Entweder wird die Abwicklung von Banktransaktionen mit Russland eingestellt, d. h. es wird unmöglich, jegliche Außenhandelsaktivitäten mit vielen Ländern der Welt durchzuführen, oder die Zahlungsabwicklung wird erschwert", erklärt Lipsits. So dauern Zahlungen aus Russland selbst ins befreundete Kasachstan bereits jetzt bis zu drei Wochen.

Russische Bank
Russische Banken spüren die Sanktionen derzeit am meisten. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Werden die westlichen Sanktionen Russlands Wirtschaft ruinieren?

Alexandra Prokopenko, die vor dem Ukraine-Krieg als Beraterin bei der Russischen Zentralbank tätig war, weist allerdings darauf hin, dass noch keine russische Bank wegen der Sanktionen bankrottgegangen ist. Ihrer Meinung nach zeigen sich die Auswirkungen der Sanktionen heute eher in Engpässen, z.B. bei Medikamenten. Die Expertin nennt weitere Indikatoren für den "ungesunden" Zustand der russischen Wirtschaft: eine zweistellige Leitzinsrate und extrem niedrige Arbeitslosigkeit. Und während der Zinssatz gesenkt werden könne, kann die russische Regierung gegen den Arbeitskräftemangel gar nichts unternehmen. "Das Ende des Krieges wird keine Arbeitskräfte freisetzen, und es werden keine Arbeitsmigranten ins Land kommen", erwartet Prokopenko.

Ökonom Lipsits sieht Russlands Zukunft eher düster: "Die Sanktionen werden die russische Wirtschaft langanhaltend und unwiderruflich zerstören. Die russische Wirtschaft wird degenerieren, immer rückständiger, ärmer und perspektivloser werden, und Russland wird sich zu einem Randgebiet der Welt zurückentwickeln."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 27. April 2024 | 07:17 Uhr

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