Ein Mitglied der Wahlkommission bereitet die Stimmzettel für die russischen Präsidentschaftswahlen 2024 in einem Wahllokal an der Staatlichen Universität Nowosibirsk vor.
Ein Mitglied der Wahlkommission bereitet die Stimmzettel für die russischen Präsidentschaftswahlen 2024 in einem Wahllokal an der Staatlichen Universität Nowosibirsk vor. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Russland Präsidentschaftswahlen als Feigenblatt

16. März 2024, 07:17 Uhr

Vom 15. bis 17. März finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Doch alle ernstzunehmenden Herausforderer Putins wurden bereits im Vorfeld disqualifiziert. Das Ergebnis steht ohnehin fest: Eine weitere Amtszeit für Putin. Warum macht sich der Kreml überhaupt die Mühe, Wahlen durchzuführen?

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

Auf dem Wahlzettel zur Präsidentschaftswahl stehen nur vier Namen – so kurz war die Liste der Kandidaten in der neuesten Geschichte Russlands noch nie. Alle mehr oder weniger ernst zu nehmenden Herausforderer wie Jekatarina Dunzuwa oder Boris Nadeschdin wurden rechtzeitig aus dem Rennen geräumt – und das bekannteste Gesicht der Opposition, Alexej Nawalny, ist tot.

Es besteht also kein Zweifel, dass Wladimir Putin aus diesem Rennen als Sieger hervorgehen wird. Die Vorhersehbarkeit des Wahlergebnisses ist derart offensichtlich, dass einige Politologen es sogar als "planmäßige plebiszitäre Amtsbestätigung" (Alexej Jusupow,  Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung) oder "plebiszitäre Maßnahmen" (Jekaterina Schulmann, Politikwissenschaftlerin und Youtuberin) bezeichnen. Danach kann der "gewählte" Präsident theoretisch bis zum Jahr 2036 regieren, gestützt auf eine Verfassung, die er 2020 für seine Zwecke umschreiben ließ.

Der russische Präsident Wladimir Putin geht bei seiner zweiten Amtseinführung durch die St. Georgs-Halle im Moskauer Kreml. 2004
Putins zweite Amtseinführung im Jahr 2004. Inzwischen ist er dank Verfassungsänderungen zum "Dauerpräsidenten" geworden. Bildrechte: picture-alliance/ dpa | epa Zemlianichenko

Doch warum wird diese Farce überhaupt veranstaltet, wenn das Wahlergebnis schon im Voraus feststeht? Die russische Gesellschaft ist dermaßen eingeschüchtert und passiv, dass es für den Kreml keine große Mühe bedeuten würde, die Präsidentschaftswahlen einfach abzusagen und stattdessen beispielsweise das Kriegsrecht in Verbindung mit der "speziellen Militäroperation" zu verhängen.

Wahlen als formale Machtlegitimation

Wahlen seien für autokratische Regime wie Russland genauso wichtig wie für Demokratien, aber aus völlig anderen Gründen, erklärt die Politologin Jekaterina Schulmann, die Russland verlassen musste und als Wissenschaftlerin am Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin tätig ist. Wahlen seien nämlich das einzige formale Verfahren, das die politische Macht legitimiert.

Jekaterina Schulmann, russische Politologin
Jekaterina Schulmann: Putin brauche Wahlen für Propaganda und formale Legitimation. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Der unabhängige Politologe Alexander Kynew ist derselben Ansicht und ergänzt, dass Wladimir Putin ein sogenannter "Legalist" sei. Das heißt, er legt Wert darauf, dass alles eine rechtliche Form hat. Der Kreml handele nach dem Prinzip "für meine Freunde alles, für meine Feinde das Gesetz", so Kynew. Selbst wenn Putin die Wahlen absagen wollte, könnte er dies nicht tun, meint Kynew. Wenn der Kreml erklären würde: "Wir regieren das Land, weil wir die Macht dazu haben", würde dies im Umkehrschluss auch Gewaltakte gegen die Machthaber selbst rechtfertigen, so Kynew. Wenn sich das Regime weigere, sich formal an geltendes Recht zu halten, legitimiere es damit Gegenwehr. Deshalb brauche es unbedingt legale Verfahren, erklärt Kynew. Dass das Gesetz dabei offensichtlich im Interesse des Regimes geschrieben wurde, werde dabei unter den Teppich gekehrt, so der Politikwissenschaftler.

Wenn sich das Regime weigert, sich formal an geltendes Recht zu halten, legitimiert es damit Gegenwehr.

Alexander Kynew unabhängiger Politologe

"Manifestation des Volkswillens"

Die Präsidentschaftswahlen sollen die Menschen in Russland und Beobachter aus dem Ausland gleichermaßen überzeugen, dass die Mehrheit der Bürger hinter Putin steht. "Die Wahlergebnisse sollen als Manifestation des Volkswillens erscheinen, als Demonstration einer öffentlichen Nachfrage, auf die die Politik des Staates bloß antwortet", sagt Jekaterina Schulmann.

Daraus werde dann geschlussfolgert, dass alles, was geschieht, im Einklang mit den Wünschen der Russen stehe. Aber das funktioniere nur, wenn man die Illusion einer freien Willensäußerung aufrechterhalten könne, so Schulmann. "Die Welt versteht zwar, dass die russische Regierung nicht von der Bevölkerung abhängig ist. Gleichzeitig behauptet sie, dass der Krieg begann, weil die Russen ihn wollten", sagt Schulmann. "Wenn man aber sehen kann, dass die Menschen in Russland nicht einmal den Bürgermeister ihrer Stadt wählen können, kann man nicht gleichzeitig behaupten, dass sie aus freiem Willen den Krieg beginnen oder stoppen können."

Z-Symbol im Tabakova-Theater in Moskau, am 10. März 2023.
Das Z soll Zustimmmung zu Putins Politik signalisieren – genauso wie die inszenierten Wahlen. Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Dabei müssen Wahlen wie immer als ein "großes volkstümliches Fest, ein Festival der Geschenke" abgehalten werden, sagt Jekaterina Schulmann. Es ist eine "Prüfung für das bürokratische System", das dem "Führer" seine Effektivität beweisen muss, so Schulmann. Und dann müsse die Gesellschaft dazu gebracht werden, das Wahlergebnis zu akzeptieren: "Das heißt, die Gesellschaft muss sagen: 'Vielleicht hat Putin keine 80 Prozent, aber sicherlich mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten'", erklärt Schulmann.

Störfaktor Nawalny

Normalerweise vermeidet der Kreml schlechte und beunruhigende Nachrichten in der Vorwahlzeit. Dennoch ist mitten im Wahlkampf der prominenteste Oppositionelle des Landes, Alexej Nawalny, im Gefängnis zu Tode gekommen. Viele Menschen machen den Kreml direkt für seinen Tod verantwortlich. Jekaterina Schulmann hat für diesen scheinbaren Widerspruch folgende Erklärung: "Aus Sicht der Behörden war Alexej Nawalny selbst eine beunruhigende Nachricht: Er hätte die Menschen zu etwas aufrufen und den reibungslosen Ablauf des Wahlkampfes so stören können."

Blick auf eine spontane Gedenkveranstaltung zum Gedenken an den verstorbenen russischen Oppositionellen Nawalny, die am Denkmal für die Opfer politischer Repressionen am Woskresenskaja-Ufer stattfindet.
Vom Regime unterschätzt: Nawalnys Tod hat Menschen in Russland mobilisiert – was u.a. in spontanen Trauerbekundungen wie hier in St. Petersburg Ausdruck fand. Bildrechte: picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire | Artem Priakhin

Der Kreml sei davon ausgegangen, dass seine Kontrolle der Medien und der öffentlichen Meinung so groß ist, dass die Nachricht von Nawalnys Tod vertuscht werden könne, vermutet Schulmann. Der Machtapparat sei seiner eigenen Propaganda aufgesessen, der zufolge Nawalny angeblich vollkommen in Vergessenheit geraten sei, und habe Nawalnys Bekanntheit und Einfluss massiv unterschätzt.

Im Mai endet nicht nur die Amtszeit von Putin, sondern auch der Regierung. Deshalb versuchen Staatsbeamte auf allen Ebenen während des Präsidentschaftswahlkampfs Putin und seinem engsten Umfeld ihre Nützlichkeit zu beweisen. Dies erklärt laut Kynew den "kreativen Verbotsdrang" der Verwaltung, also den Kampf gegen alles, was irgendwie von der "Parteilinie" abweicht, zum Beispiel den Kampf gegen die "internationale LGBT-Bewegung, also eine Ortanisation, die (in Russland, Anm. d. Red.) gar nicht existiert". Alle diese Initiativen sind nur für einen Zuschauer gedacht – Wladimir Putin persönlich.

Wie geht es nach den Wahlen weiter?

Daraus zieht Kynew den Schluss, dass nach den Wahlen die "akute Psychose", wie er es nennt, vorübergehen wird. Die Machthaber werden auf Stabilität und die Sicherung des Status quo setzen, prognostiziert Kynew. Deshalb rechnet er nicht mit der von vielen befürchteten Massenmobilmachung direkt nach den Wahlen. "Unpopuläre Maßnahmen werden nur ergriffen, wenn sie unvermeidlich sind", sagt der Politologe voraus.

Alexander Kynev
Politologe Alexander Kynev: Nach den Wahlen werde Putins Regime auf Stabilität setzen und unpopuläre Maßnahmen nach Möglichkeit vermeiden. Bildrechte: privat

Jekaterina Schulmann sieht das anders: Ihrer Meinung nach wird sich das System "verjüngt" fühlen, wenn es die Wahlübung erfolgreich absolviert hat. "Nachdem es das gewünschte Ergebnis geliefert hat, wird das System für eine Weile frei von Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern sein. In diesem Moment können unpopuläre Entscheidungen getroffen werden", prophezeit Schulmann.

Am 19. Februar forderte die Witwe von Alexej Nawalny, Julia, die EU auf, die Ergebnisse der russischen Präsidentschaftswahlen nicht anzuerkennen. Auch sie hat eine Erklärung, warum der Urnengang für das Regime notwendig ist: "Diese Wahlen sind gefälscht. Aber Putin braucht sie trotzdem. Für die Propaganda. Er will, dass die ganze Welt glaubt, dass alle in Russland ihn unterstützen und ihn bewundern. Glauben Sie dieser Propaganda nicht!"

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten - Der Osteuropa-Podcast | 16. März 2024 | 07:17 Uhr

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